Diane Arbus

Die Bedeutung der Fotografin Diane Arbus

Diane ArbusDen behaglichen Wohlstand kannte Diane Arbus, geb. Nemerov, bereits seit Ihrer Geburt. Die amerikanische Fotografin wurde am 14. März 1923 in New York City geboren. Ihr Vater, David Nemerov, eröffnete im gleichen Jahr das später gut besuchte ›Kaufhaus Russeks‹ mit Pelzen in den unteren zwei Etagen und weiteren Abteilungen für Damenkleider und Hüte. Außerdem richtete er eine Boutique für Damenunterwäsche, einen Schönheitssalon sowie einen Salon für Hochzeitskleider ein (Bosworth, 1984).

Als vierjährige zog Dianes Familie, mit russisch-jüdischer Abstammung, in ein Appartment an der Park Avenue, am Central Park West. Die Familie hatte zwei Dienstmädchen, eine Köchin, einen Chauffeur und ein deutsches Kindermädchen, das für den älteren Bruder Howard Nemerov zuständig war. Howard wurde 1920 geboren, studierte an der Harvard University, wurde später Literaturdozent und ein anerkannter Dichter. Für ›Collected Poems‹ wurde er 1978 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet, der in seiner Bedeutung etwa mit dem amerikanischen Oscar für herausragende schauspielerische Leistungen verglichen werden kann.

Diane wurde in den Privatschulen ›Ethical Culture Society‹ und ›Fieldston School‹ unterrichtet. Da Mitte der dreißiger Jahre der Schwerpunkt des Lehrplans auf ethische Studien ausgerichtet war, wurden Ihr durch die Lehrkräfte philosophische Hintergründe des menschlichen Lebens nicht selten durch gleichnishafte Darstellungen aus der griechischen Mythologie oder aus den Werken von Homer, Virgil, Dante und Shakespeare vermittelt. Immer ging es in diesen Gleichnissen um die Rätsel des Lebens. Mythen waren dem Verständnis der Lehrkräfte nach nicht einfach nur erdachte Geschichten, vielmehr hätten diese Ihren Ursprung in den Tiefen des Unbewussten, vergleichbar mit den Träumen, die sehr persönlich seien. Der Mythos dagegen »sei der Traum einer Gemeinschaft« (Bosworth, 1984, S. 46). Vielleicht war dies für sie der Auslöser, in den Ereignissen der Welt einen mythologischen Hintergrund zu sehen.

»Später sah sie dann das Ritual, den Mythos in visuellen Spektakeln wie etwa in Paraden, Wettbewerben, im Zirkus, in Tänzen und bei Hochzeitsfeiern, und ein solcher Hintergrund war eine Quelle der Inspiration für Ihr Photographieren« (Bosworth, 1984, S. 46).

In den Außenseitern der Gesellschaft, den Freaks, Exzentrikern, den ungewöhnlichen, grotesken und skurrilen Figuren, den Kleinwüchsigen oder Riesen konnte Sie den Kosmos für Ihre Arbeiten entdecken. Von ihnen fühlte sie sich angezogen, wollte mit ihnen reden und Zuständen nachspüren, die sie irgendwie kannte. Diane konnte sich mit deren Isoliertheit, deren Einsamkeit, Fremdheit und Trauer identifizieren, trotz der großen kulturellen Kluft, die zwischen ihnen bestand. Später bekannte sie einmal, wie sehr sie darunter gelitten habe, als Kind nie die herabsetzende Wucht des Elends gespürt zu haben. Fast schmerzhaft quälte sie die Tatsache, sich gleichsam in einer Sphäre des Irrealen, in einem Zustand der Immunität zu bewegen (vgl. Bosworth, 1984). Häufig fuhr sie mit einem Mitschüler das gesamte U-Bahnnetz ab, nur um die Welt der Exzentriker, der außergewöhnlichen Menschen, Freaks, Exhibitionisten, die sich in der U-Bahn entblößten, Albino-Botenjungen und andere Außenseiter beobachten und erforschen zu können. Diese andere Welt hatte für sie eine große Faszination und gehörte doch mit der gutbürgerlichen Welt ihrer Eltern, in die sie immer wieder zurückkehrte, zusammen.

Mit vierzehn Jahren wirkte Diane immer noch sehr zerbrechlich, fast schmerzhaft schüchtern, scheu und in sich zurückgezogen. Sie lernte den vier Jahre älteren Allan Arbus kennen, der für sie der »bestaussehendste Mann war, dem ich jemals begegnet bin« (Bosworth, 1984, S. 51). Von da an war sie entschlossen, sich mit ihm, so oft es möglich war, zu treffen – auch gegen den Vorbehalt ihrer Eltern, für die Allan im Vergleich zu den Nemerovs zu arm war. Doch für Diane war Allan die wichtigste Person und bedeutsamste Beziehung. Seitens der Eltern, David Nemerov und Gertrude Russek Nemerov, blieb jeder Versuch, Diane umzustimmen, wirkungslos. Schließlich gaben sie resigniert auf und erklärten sich mit der Heirat notgedrungen einverstanden. Die Verlobung wurde am 3. März 1941 in der ›New York Times‹ der Öffentlichkeit mitgeteilt und bereits am 10. April 1941, nur wenige Tage nach ihrem achtzehnten Geburtstag, wurden Diane Nemerov und Allan Arbus getraut.

Das Kaufhaus der Nemerovs ›Russeks‹ hatte inzwischen viel Erfolg mit pelzbesetzten Kostümen und Mänteln. Ihr Umsatz betrug im Jahre 1941 etwa zwei Millionen Dollar. Andererseits wollte sich der finanzielle Erfolg bei Diane und Allan nicht recht einstellen. Von Seiten der wohlhabenden Eltern Dianes war keine finzanzielle Unterstützung zu erwarten, obwohl sie von den finanziellen Nöten der ›Kinder‹ wussten. Allan hatte in diesen Jahren zwei Jobs und machte seine ersten Versuche als Modefotograf, während Diane ihm dabei assistierte. 1943 besuchte Allan, während seines Militärdienstes, eine Schule für Fotografie und brachte Diane am Abend bei, was er zuvor gelernt hatte (vgl. Bosworth, 1984, S. 84). Am 3. April 1945 wurde Dianes Tochter Doon geboren.

1946 erhielt Diane vom Werbemanager des Kaufhauses Russeks, Ben Lichtenstein, ihre erste Kamera, eine Speed-Graphic-Kamera, eine Art Pressekamera, mit der sie zunächst versuchte, zu experimentieren. Allerdings konnte sie die Kamera nur unzureichend handhaben, so dass sie diese bald schon nicht mehr verwendete. »Sie ist entschlossen, das eine zu tun, während man selbst will, dass sie etwas anderes tut« (Bosworth, 1984, S. 93), erzählte Diane später. Einige Zeit studierte sie bei Berenice Abott, die sich mit Portaits von James Joyce, New Yorker Straßenszenen und Architekturaufnahmen einen Namen machte. Zudem kaufte sie den Nachlass des 1927 verstorbenen Eugène Atget auf, um ihn einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen. Im übrigen war für Abott die Fotografie die maßgebliche Kunstform des zwanzigsten Jahrhunderts.

Wenngleich das Interesse für Mode sowohl bei Diane als auch bei Allan nicht sonderlich ausgeprägt war – zumal sie wussten, dass die Modefotografie lediglich die Gegenwart abbildete, nur momentane Effekte festhielt – arbeiteten sie immer regelmäßiger als Modefotografen zusammen. Allan Arbus wurde 1946 aus der Armee entlassen und war inzwischen zum Militärfotografen ausgebildet worden. Zu Beginn ihrer Karriere arbeiteten beide noch im Studio von Russeks, das sie sich vorerst noch mit dem Russeks-Mitarbeiter, Harold Halma, teilten. Allen richtete erst die Beleuchtung aus, dann besprachen beide die Bildkomposition. Da die Mode-Aufträge von Russeks nicht sonderlich viel einbrachen, suchten sie zwischendurch immer wieder die Büros von Modejournalen oder Werbeagenturen auf, um zusätzliche Einnahmen zu erzielen. Für die Modezeitschriften ›Glamour‹ und ›Seventeen‹ machen Diane und Allan die Tielaufnahmen und gehörten zu den festen Mitarbeitern der Zeitschrift ›Vogue‹. Von den Werbefirmen ›Young & Rubicam‹ sowie J. ›Walter Thompson‹ bekamen sie einträgliche Aufträge. Selbst im ›Life‹ Magazin erschienen ihre Fotografien als ganzseitige Anzeigen. Mitte der fünfziger Jahre war die kommerzielle Fotografie sehr gefragt. Die Anzeigenkunden gaben Millionen Dollar für Werbekampagnen in den Zeitschriften aus, zumal das Fernsehen noch noch ein sehr junges Medium war. »Die Zeitschriften ›Life‹ und ›Look‹ bestanden fast nur noch aus Inseraten. Und jeder Photograph wollte ein Stück von diesem Kuchen« (Bosworth, 1984, S. 143).

Die Arbeiten der Fotografin Lisette Model, die sich in ihren Bildern mit dem Grotesken, den Gegensätzen, der Armut oder dem Alter dokumentarisch auseinandersetzte, hatten zweifellos einen bedeutenden Einfluss auf die künstlerische Entwicklung Dianes. Lisette kam 1941 nach New York und wurde dort mit einer Ausstellung im ›Museum of Modern Art‹ (MoMA), im New Yorker Stadtteil Manhattan, schlagartig berühmt (vgl. Bosworth, 1984, S. 160). Sie war es, die Diane ermutigte, sich dem Fremden, dem Ungekannten zu stellen, Menschen zu fotografieren oder auch Orte, die sie aus einer Ängstlichkeit heraus lieber gemieden hatte. Überhaupt konnte Lisette pausenlos reden, besonders über die Fotografie, die sie als »Kunst der zerhackten Sekunde« verstand (Bosworth, 1984, S. 161). Die Kamera auf etwas zu richten habe nichts mit dem Versuch zu tun, etwas zu beweisen. Vielmehr ginge es darum, etwas zu lernen (vgl. Bosworth, 1984, S. 163). Sie veranstaltete regelmäßig Vorlesungen an der 1919 unter dem Namen ›New School for Social Research‹ gegründeten Universität in New York. Für Diane sollte Lisette in den kommenden Jahren die wichtigste Lehrerin, überhaupt die engste Freundin werden. Stundenlang diskutierten sie miteinander oder erzählten sich ihre Geheimnisse. Lisette fühlte sich von Dianes Sensibilität und Zerbrechlichkeit, Diane von Lisettes Eloquenz, Pragmatismus und Vitalität angezogen (vgl., Bosworth, 1984, S. 168). Endlich hatte Diane in Lisette jemanden gefunden, von dem sie lernen konnte.

Diane verbrachte jetzt viele Stunden im Central Park von Manhatten oder in Coney Island, einem bunten und quirligen Wohnviertel von Brooklyn mit weitläufigem Strand. Dort konnte sie ihre Motive finden, die Außenseiter, Transvestiten, Androgynen, Tätowierten oder Exzentriker unterschiedlichster Ausprägung. Immer noch hatte sie große Probleme mit ihrer Schüchternheit, musste innere Widerstände niederringen, um jemanden zu fragen, ob sie von ihm Fotografien machen dürfe. Ganz allmählich aber verlor sich diese Schüchternheit. Zunächst fotografierte sie ihre Motive aus einem behutsamen Abstand heraus, um später in die Nahaufnahme zu wechseln. Lisette brachte Diane bei, die Motive nicht zu verschleiern, nicht wegzusehen, mutig zu sein und Selbstvertrauen zu entwickeln. Diane war überzeugt davon, dass sie vor ihrem Studium bei Lisette Model, lediglich vom Fotografieren geträumt habe als wirklich zu fotografieren (vgl., Bosworth, 1984, S. 168).

Immer wieder war sie in der Nachmittagsvorstellung des Films ›Freaks‹ zu finden, den sie sich mit einer Freundin ansah. Keine Phantasiegestalten waren da auf der Leinwand zu sehen. Die Abnormen, Kleinwüchsigen, siamesischen Zwillinge, bärtigen Frauen, Riesen, geistig Behinderten und anderen Außenseitern, die sie zu sehen bekam, waren eine ganz andere Welt, eine schonungslose und tabubrechende Realität, Geschöpfe von normalen Müttern und Vätern, die aber infolge einer nicht verstehbaren und seltsamen höheren Macht zu den sonderbaren Gestalten wurden, die sie zwar nicht zu entschlüsseln vermochte, aber ein lebhaftes Interesse in ihr hervorriefen (vgl. Bosworth, 1984, S. 196). Diese Vielfalt menschlichen Daseins hatte nichts Lächerliches. So wuchs in Diane allmählich die Überzeugung, dass die meisten Menschen sich grundsätzlich vor traumatischen Erfahrungen fürchteten, dagegen seien Freaks bereits »mit einem Trauma zur Welt gekommen. Sie haben ihre Prüfung im Leben bestanden. Sie sind Aristokraten.« (Bosworth, 1984, S. 211).

Ende der 50er Jahre, mehr noch in den 60er Jahren verdiente sie ihren Lebensunterhalt hauptsächlich mit Fotoreportagen, die sich dokumentarisch mit der großstädtischen Subkultur, den Randfiguren, den Ausgestoßenen auseinandersetzten. Sie arbeitete für zahlreiche Magazine und Zeitschriften, unter anderem Harper’s Bazaar, Glamour, Essence oder Esquire. Das Groteske, Alltägliche, die skurilen Gestalten, ungewöhnlichen Launen der Natur, Prostituierte oder Nudisten, surreal anmutende Außenseiter: diesem gesellschaftlichen Bereich widmete sie sich mit leidenschaftlicher Energie und großer Anteilnahme. Er ließ sie bis zu ihrem freiwilligen Tod im Jahre 1971 nicht mehr los.

Text: © Fotografie | Dieter Johannsen

Literaturhinweise

Abbildung

  • Diane Arbus. Die Monographie, Zusammengestellt von Doon Arbus und Marvin Israel, Schirmer/Mosel 2011.
    Bildverwendung mit freundlicher Genehmigung des Schirmer/Mosel Verlages.