Die Bedeutung des Fotografen Eugène Atget
Wer im alten Pariser Stadtviertel ›Quartier de Montparnasse‹ die kaum 300 Meter lange Straße mit dem Namen ›Rue Campagne-Première‹ entlang geht, findet wenig später an der Fassade des Hauses Nummer 17bis (Beaumont Newhall erwähnt die Nummer 31, die er vermutlich mit derjenigen Man Rays verwechselt, der nur einige Häuser weiter sein Wohnatelier hatte) ein kleines, eher unauffälliges Schild mit der Aufschrift »Eugène Atget, Père de la photographie moderne, a vécu dans cette maison de 1898 à 1927. (Eugène Atget, Der Vater der modernen Photographie, lebte in diesem Haus von 1898 bis 1927.)« In dieser Zeit, etwa ab 1898, schuf der Fotograf mit seinen etwa 7000 Negativen in mehr als zwanzig Jahren die Voraussetzungen, zur Ikone, zum Monument der dokumentarischen Fotografie des ›Vieux Paris‹ zu werden.
Atget wurde 1857 in Libourne, im Département Gironde, geboren. Da er schon früh seine Eltern verloren hatte, wuchs er bei einem Onkel auf (Newhall, 1984, S. 198). Anderen Quellen zufolge ist er bei seinen Großeltern aufgewachsen (Frizot, 1998, S. 402). Atget versuchte sich zunächst in unterschiedlichen Berufen. Bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr fuhr er als Schiffsjunge zur See. 1878 zog Atget nach Paris, wurde erst im zweiten Anlauf zum Schauspielunterricht zugelassen und trat in der Provinz als Schauspieler in den Vororten und Provinzen auf. Während dieser Zeit lernte er die zehn Jahre ältere Schauspielerin Valentine Delafosse-Compagnon kennen, mit der Atget bis zu ihrem Tode 1926 zusammenblieb. Wegen einer Entzündung seiner Stimmbänder sah Atget sich gezwungen, die Schauspielerei aufzugeben, zog 1887 in die Provinz und unternahm einige Anläufe, sich als Maler durchzusetzen – freilich mit nur geringem Erfolg. 1890 zog er zurück nach Paris und fasste im Alter von 42 Jahren schließlich den Entschluss, sich als professioneller Fotograf niederzulassen.
Atget entwickelte den Ehrgeiz – war fast besessen davon – jeden Winkel der Stadt, Hauseingänge, Straßenmusikanten, einfache Leute, Prostituierte, Schaufensterauslagen, Brotverkäufer, Brücken, kleine Gassen, Jahrmärkte, Schuhauslagen, Straßenhändler, schmiedeeiserne Gitterwerke, Statuen, Kneipen, Ladenschilder, Fassaden, sämtliche Straßen, Hinterhöfe und selbst unscheinbar anmutende Straßenecken des ›Vieux Paris‹, des ›alten Paris‹ zu fotografieren. Vom französichen Schauspieler und Filmregisseur André Calmettes, der mit ihm befreundet war, erfahren wir, dass Atget eine Zeitlang alles fotografieren und dokumentieren wollte, was in Paris und Umgebung künstlerisch wertvoll oder mindestens pittoresk erschien (vgl. Newhall, 1984, S. 198). Gelegentliche Aufträge erhielt er etwa ab 1898 von arrivierten Institutionen wie der Bibliothèque Nationale de France, der Société d’Iconographie Parisienne, der Bibliothèque historique de la ville de Paris (BHVP), den Archives Photographiques du Palais Royal und anderen Einrichtungen. Vornehmlich ging es ihnen um das Schließen der Lücken ihrer Bildarchive. Nicht selten fertigte er Fotografien für Kunsthandwerker, Maler, Architekten oder zeitgenössische Künstler an, die seine abgebildeten Straßenszenen oder einzelne Motive daraus als Vorlage in ihre eigenen Werke einarbeiteten (Wiegand, 1998).
Betrachten wir die Fotografien, die die amerikanische Fotografin Berenice Abbott (1898-1991) von Atget kurz vor dessen Tod im Jahre 1927 und nach dem Tod seiner Lebensgefährtin (im Jahre 1926) aufnahm, sehen wir einen ausgezehrten, gebeugten, erschütterten und verzweifelt wirkenden alten Mann in einem viel zu großen Mantel, dem sich die fundamentale Wucht des Verlassenseins buchstäblich in den Körper gegraben hat. Wahrgenommen wurde Atget denn auch als Kauz, als Einzelgänger, als Sonderling, der immer ein wenig verbittert und wortkarg erschien, aber unermüdlich, pedantisch, diszipliniert und unverdrossen Tag für Tag, in einem Zeitraum von weit mehr als zwanzig Jahren seine Motive suchte – und gefunden hatte.
Als Atget mit der Fotografie etwa ab 1898 anfing, waren kleinere Kameras mit kürzeren Belichtungszeiten und der Möglichkeit, größere Tiefenschärfen zu verwenden, längst in Gebrauch. Die von ihm verwendete Ausrüstung war dagegen technisch fast aus der Zeit gefallen, äußerst altmodisch, schwer und umständlich zu handhaben. Sie entsprach eher derjenigen Apparaturen, die im neunzehnten Jahrhundert noch in Gebrauch waren: eine aus Holz gefertigte 18 x 24 cm-Plattenkamera mit Balgenauszug, die stets auf einem Stativ angebracht wurde. Rechnet man die Kassetten mit Glasplatten, die ja zusätzlich mitgeführt werden mussten, hinzu, wog die gesamte Ausrüstung nahezu 20 kg (Wiegand, 1998). Ganze 29 Jahre quälte Atget sich mit der schweren Ausrüstung, schleppte sie immer wieder und bei nahezu jedem Wetter durch das alte Paris.
Vermutlich um 1825 lernten sich Atget und der amerikanische Filmregisseur und Fotograf, Man Ray, kennen. Man Ray kam 1821 nach Paris und fand ein Jahr später, in der ›Rue Campagne-Première‹ Nr. 31, nur einige Häuser von Atgets Dachwohnung entfernt, ein geeignetes Wohnatelier mit Küche und Bad. Im Gegensatz zu manch anderen Künstlern war Ray von der Qualität der Fotografien Atgets überzeugt. Rays Atelier entwickelte sich schnell zu einem beliebten Treffpunkt für Fotografen, Maler und Schriftsteller. Er war es, der etwa 40 Aufnahmen von Atget erwarb und dafür sorgte, dass vier dieser Bilder in Bretons Zeitschrift ›La Rèvolution surréaliste‹ veröffentlicht wurden. Eine in späteren Jahren berühmt gewordene Aufnahme von Atget brachte es 1926 auf die Titelseite der Zeitschrift (Wiegand, 1998, S. 20). Sie zeigt eine Gruppe von Menschen, die eine Sonnenfinsternis durch ein dunkles Glas beobachtet. Auch Man Rays Assistentin, Berenice Abbott, die Atget mehrfach aufsuchte, kaufte von ihm Abzüge und erwarb nach dessen Tod im Jahre 1927 dessen Nachlass, mit der Absicht, sein fotografisches Vermächtnis einem größeren Publikum, vornehmlich dem der USA, bekannt zu machen. 1968 trennte sich Abbott von den Bildern und übergab sie dem New Yorker Museum of Modern Art (MoMA).
Am Ende seines siebzig Jahre währenden Lebens schuf Eugène Atget gleichsam eine beispiellose und monumentale Dokumentation des ›Vieux Paris‹, die in dieser Form wohl nur wenigen bekannt war. Der kauzig und verschroben wirkende Atget blieb zu Lebzeiten eher unbekannt. Seine Arbeiten wurden nie im Rahmen einer Ausstellung kuratiert oder in einer der zahlreichen Fotozeitschriften veröffentlicht. Erst nach seinem Tod im Jahre 1927 fand sein Lebenswerk, nicht zuletzt dank der immensen Anstrengungen Berenice Abbotts, weltweite Anerkennung.
Text: © Fotografie | Dieter Johannsen
Literaturhinweise
Abbildung
- Grafik: © Dieter Johannsen