Henri Cartier-Bresson

Die Bedeutung des Fotografen Henri Cartier-Bresson

Henri Cartier-BressonDie Szenerie, auf die der Fotograf Henri Cartier-Bresson sein Augenmerk richtete, war nicht unbedingt spektakulär, nicht sonderlich auffällig oder romantisch. Häufig waren es ganz alltägliche, unauffällige, gleichsam banale Anordnungen der Elemente, eigentlich eine ganz gewöhnliche Szenerie. Aber dann gab es einen winzigen Augenblick, den Bruchteil einer Sekunde, wo, wie Cartier-Bresson es einmal formulierte, sich ein Moment einstellt, »in dem alle bewegten Elemente im Gleichgewicht sind. Diesen Moment gilt es festzuhalten.« Eben für diesen entscheidenen Augenblick hatte Cartier-Bresson eine nahezu hellseherische Fähigkeit. In diesem kurzen, einzigen Moment konzentrierte, verdichtete sich der bedeutsamste Aspekt, offenbarte sich die aussagekräftigste Form des Bildes (Newhall, 1984).

Henri Cartier-Bresson wurde am 22. August 1908 in Chanteloup-en-Brie, Département Seine-et-Marne, in Frankreich geboren.  Ohne einen Abschluss zu machen, verließ er das Lycée Condorcet in Paris und studierte 1927 bis 1928 Malerei im Atelier des Malers André Lhote. Seine Leidenschaft für die Fotografie entdeckte er ab etwa 1930. So wurde er Fotojournalist, machte im Auftrag verschiedener Magazine zahlreiche Reisen und konnte sich in diesen Jahren der Fotografie intensiv zuwenden. Schon bald wurden seine Bilder in Zeitschriften und Galerien gezeigt, so auch 1933 in der ›Julien Levy Gallery‹ in New York.

Anfang der Dreißiger Jahre lernte er den amerikanischen Fotografen Paul Strand kennen, von dem seine Arbeiten wesentlich beinflusst wurden. Beide waren zufällig zur gleichen Zeit auf dem Weg nach Mexiko. 1935 trafen sie sich in New York wieder, wo sie sich der politischen Filmemachergruppe Nykino (die später ›Frontier Films‹ hieß) anschlossen. Für einige Zeit war er Regieassistent bei Jean Renoir, lernte unter anderem Man Ray, André Kertész und Eugène Atget kennen von denen er ebenfalls beeinflusst wurde. Während des zweiten Weltkrieges geriet Cartier-Bresson in Kriegsgefangenschaft, wo ihm nach drei Jahren schließlich die Flucht gelang. Einige Zeit war er in der Untergrundbewegung und nach der Befreiung Frankreichs als offizieller Kriegsberichterstatter tätig.

Von den »Hoffnungen und Möglichkeiten der Nachkriegsjahre geprägt« (Ritchin, 1998, S. 598), gründeten die fünf Fotografen Henri Cartier-Bresson aus Frankreich, Robert Capa aus Ungarn, den die Aufnahme vom tödlich getroffenen Regierungssoldaten während des spanischen Bürgerkrieges 1936 über Nacht berühmt machte, der Engländer George Rodger, der aus Polen stammende David Seymour – Spitzname Chim – und der aus den USA stammende Kriegsfotograf William Vandivert 1947 die Fotoagentur Magnum. Ziel der Kooperative war es, sich aus den Abhängigkeiten von kommerziellen Auftraggebern zu lösen. Man wollte unabhängig arbeiten, die Themen selbst bestimmen und die Rechte an den eigenen Aufnahmen behalten können, statt sie an die veröffentlichenden Magazine abtreten zu müssen (Ritchin, 1998).

Magnum entwickelte sich zu einer der weltweit erfolgreichsten und bedeutendsten Fotoagenturen, was in den Anfangsjahren wesentlich auch der charismatischen Persönlichkeit Robert Capas und dem herausragenden Ruf der anderen Gründungsmitglieder geschuldet war. Zudem hatte Henri Cartier-Bresson kurz vor Gründung der Agentur zusätzliche Anerkennung als Fotokünstler mit einer Ausstellung im ›Museum of Modern Art‹ in New York erlangt, das dafür bekannt war, die weltweit bedeutendsten und einflussreichsten Sammlungen moderner und zeitgenössischer Kunst zu zeigen (vgl. Butt, 2019).

Die Fotografien der Agentur Magnum hatten den Nimbus des Besonderen und waren von herausragender Qualität. Magnum hatte zudem den Ruf, die weltweit besten und fähigsten Fotografen in ihrem Diensten zu haben. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass sich zahlreiche Legenden und Mythen um diese Agentur bildeten, wohl auch deshalb, weil zwei ihrer Mitglieder, Robert Capa (1954 in Indochina durch eine Landmine) und David Seymour (1956 bei einem Schusswechsel am Suezkanal), innerhalb der ersten neun Jahre nach Gründung von Magnum  als Kriegsberichterstatter ihr Leben verloren (vgl. Weihser, 2014)

Möglich, dass Cartier-Bresson aus den Erfahrungen seiner Kriegsreportagen Anfang der fünfziger Jahre seine Theorie vom »entscheidenden Augenblick« entwickelte. Der ›rechte Augenblick‹ war es auch, der ihn zur Ikone der Fotografie des zwanzigsten Jahrhunderts werden ließ. Er zählte zu den seltenen Fotografen, die die ›Augenblicke der Wahrheit‹ authetisch festhalten können, stellte das Magazin »Time« fest, das ihn für seine Arbeiten auszeichnete, als er knapp dreißig Jahre alt war (vgl. Knöfel, 2004). Das Werkzeug, das Henri Cartier-Bresson für seine Bilder benutzte, war eine leise Leica M, die unauffällig und klein war und die er 1932 – im Alter von 24 Jahren – gekauft hatte. Mit dieser lag er auf der Lauer, um im ›rechten Augenblick‹ den Auslöser zu aktivieren und im Sekundenbruchteil Bilder von höchster Präzision abzulichten.

»Wie kann man das Motiv verschlafen? Es stellt sich doch. Und weil jedes Geschehen Motive auch in unserer engsten Umgebung liefert, genügt es, hellwach sehend zu sein gegenüber den Ereignissen und gegenüber unserem Gefühl. Man setzt sich in Beziehung zu dem, was man wahrnimmt.« (Cartier-Bresson, 1996, S. 17 u. 18)

Viel hatte der Meister, des ›rechten Augenblicks‹, der auch auf Helen Levitt starken Einfluss ausübte, für seine ausdrucksstarken Schwarz-Weiß-Bilder nicht gebraucht. Seine Leica M war lediglich mit einem 50mm-Normalobjektiv ausgestattet; auf Blitzlicht-Aufnahmen verzichtete er absichtlich, ebenso auf nachträgliche Ausschnitte in der Dunkelkammer (vgl. FOCUS online vom 15.10.2007). »Leichtes Gepäck, das ist die Lehre, die uns überallhin begleitet, wenn wir sie begriffen haben. Sie ermöglichte es Cartier-Bresson, sich unsichtbar zu machen, um den Augenblick ertappen zu können.« (Macé, 1998, S. 80).

»Mit seinem Instinkt für den ›entscheidenen Moment‹ und seiner feinfühligen Menschenkenntnis hat Cartier-Bresson seinen größten Beitrag zur Photographie geleistet« (LIFE, Große Fotografen, 1978, S. 201).

Henri Cartier-Bresson starb im hohen Alter von 95 Jahren, am 03. August 2004, in l’Ile-sur-Sorgue, im Südosten Frankreichs. Nur wenige Tage später, am 22. August 2004, wäre er 96 Jahre alt geworden.

Text: © Fotografie | Dieter Johannsen

Literaturhinweise

Abbildung:

  • Grafik: © Dieter Johannsen