Die Bedeutung der Fotografin Lisette Model
An der südfranzösischen Mittelmeerküste gibt es sehr wahrscheinlich niemanden, dem die legendäre ›Promenade des Anglais‹ in Nizza, Mythos und Wahrzeichen zugleich, unbekannt wäre. Die Einheimischen nennen sie nonchalant ›La Prom‹ oder – noch leichtfüßiger – ›Prom‹. Inzwischen blickt die Uferpromenade – einst ein Ort der Inspiration für Schriftsteller wie Stefan Zweig, Friedrich Nietzsche und Colette, Maler wie Henri Matisse, Marc Chagall und Raoul Dufy oder Fotografen wie Charles Nègre, Jacques-Henri Lartigue und Lisette Model – auf eine etwa zweihundertfünfzigjährige Geschichte zurück.
Aus einem ehemals schlichten Kiesweg wurde von 1824 an bis in das zwanzigste Jahrhundert hinein eine sieben Kilometer lange, an manchen Stellen gut zehn Meter breite und von Palmen eingefasste Flaniermeile, die entlang der azurblauen ›Baie des Anges‹ (Bucht der Engel) verläuft, eine der schönsten Buchten der ›Côte d’Azur‹. Weltweiter Mythos und Wahrzeichen der Stadt zugleich, reicht sie vom Flughafen bis zum in Hafennäche liegenden ›Quai des États-Unis‹. Auf der ›Promenade des Anglais‹ (Promenade der Engländer) flanierten Mitte des neunzehnten Jahrhunderts einst mit Vorliebe britische Aristokraten, die dem nasskalten und grauen Winter Großbritanniens entfliehen wollten. So entwickelte sich die Strandpromenade in den 1930er Jahren zunehmend zum Treffpunkt einer wohlhabenden, elegant gekleideten, zur Körperfülle neigenden, privilegierten europäischen Mittelschicht, darunter auch Deutsche und Russen.
Fasziniert vom Gegensatz »natürlicher Schönheit und geschminkter Morbidezza« (DER SPIEGEL 27, 1980) fand Lisette Model im Sommer 1934 auf der häufig aufgesuchten Strandpromenade einen Teil ihrer Modelle. Modelle, die den gängigen ›Evangelien der Schönheit‹ (Kracauer, 1964) nicht untergeordnet werden konnten. »Lisette Model nannte ihre Motive: Extreme, Übertreibungen – und das waren sie auch: Entweder fett oder sehr dünn, sehr reich oder sehr arm. Sie wusste um die Häßlichkeit des Fleisches und weigerte sich, die Augen vor dieser Tatsache zu verschließen« (Bosworth, S. 159, 1984). Das waren Porträts von Deutschen, Russen und Franzosen, die sich während des Sommers dort aufhielten und den Gegenentwurf von Jugendlichkeit und Anmut darstellten, gelangweilt scheinende, wohlhabende und gleichgültig wirkende Müßiggänger. Sussman sah in diesen Bildern eine »vernichtende Darstellung der trägen oberen Mittelschicht Europas« (S. 5, 2001). 1938 fand die Serie ›Promenade des Anglais‹, die in der renommierten Zeitschrift ›Regards‹ veröffentlicht wurde, weithin Beachtung.
Die Fotografin Lisette Model wurde am 10. November 1901 in Wien als Elise Amelie Félicie Stern geboren. Nach einer Namensänderung der Familie wurde daraus ab 1903 Elise Amelie Félicie Seybert. Ihre Mutter Félicie war Französin, der Vater, Victor Seybert, war jüdischer Herkunft, Arzt, gebildet, musisch und wohlhabend, halb Österreicher, halb Italiener. Lisette lebte in einer geräumigen Wiener Villa mit zwei weiteren Geschwistern, wächst mehrsprachig auf und wurde hauptsächlich von den Hausangestellten der Eltern aufgezogen (Bosworth, 1984). Viel Zeit verbrachte sie in der bescheiden eingerichteten Wohnung von Arnold Schönberg, einem österreichischen Komponisten, Musiktheoretiker, Kompositionslehrer und Freund der Familie Seybert. Mit dessen Tochter, Trude Schönberg, verband Lisette eine enge Freundschaft.
Bei Eduard Scheuermann nahm Lisette, die Konzertpianistin werden wollte, ab 1918 Klavierunterricht, den sie 1920 bei Arnold Schönberg – der mit ihrer Familie eng befreudet war – in einer privaten Mädchenschule fortsetzte. Lisette beschrieb Schönberg später als einzigen Lehrer, der für sie die größte Bedeutung gehabt habe. Schönberg war es auch, dessen Auffassung, ›das 20. Jahrhundert nur dann zeigen zu können, wenn man über ein modernes Nervensystem verfüge, im Hier und Jetzt lebe und mit beiden Beinen auf dem Boden dieser Zeit stünde‹ (Sussman, 2001), sie später ihren Schülern gegenüber vermitteln sollte.
Lisette Model in Frankreich
Nach dem Tod ihres Vaters, Victor Seybert (1924), kehrt ihre Mutter (Felicie Seybert) mit den beiden Töchtern Olga und Lisette nach Frankreich zurück. Dort kommt sie 1926 bei einem Onkel an der Côte d’Azur in Nizza unter. Lisette, die sich weiterhin zur Musik hingezogen fühlt, zieht indessen nach Paris, um in den folgenden Jahren Gesang zu studieren. Doch nach sieben Jahren ist sie überzeugt, keine wirklich musikalische Begabung zu haben. Sie gibt die Musik schließlich auf, wendet sich für kurze Zeit der Malerei zu und nimmt Unterricht bei André Lhote, einem renommiertem Bildhauer, Maler und Kunsttheoretiker.
Um 1933 wendet sie sich der Fotografie zu, freilich aus einer anderen Perspektive und zunächst weniger von der Absicht geleitet, eigene professionelle Bilder erstellen zu wollen. Zu diesem Zeitpunkt war das Interesse an der Fotografie nicht besonders ausgeprägt. Vielmehr wollte sie als Fotolaborantin praktische Kenntnisse erwerben, Kenntnisse, welche sie notfalls überall würde mitnehmen können. Denn ihre Zukunft in Frankreich schien mehr als ungewiss, war doch das politische Klima der dreißiger Jahre in Europa angespannt, fragil und beunruhigend.
In Frankreich waren die 1930ger Jahre geprägt von schweren Krisen, die zu schnell wechselnden Regierungen führten. Im Jahre 1933 hielten sich allein in Frankreich etwa 100.000 Flüchtlinge auf, davon war der größte Teil jüdischer Herkunft, darunter auch sozialdemokratische und kommunistische Anhänger aus dem deutschsprachigen Raum. Es entwickelten sich vielfältige politische und kulturelle Aktivitäten. Zahlreiche deutschsprachige Zeitungen und Zeitschriften wurden publiziert. Ab 1934/1935 wurden die Aufnahmebedingungen zunehmend restriktiver. Nur etwa zehn Prozent hatten eine dauerhafte Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis in Frankreich. Bestimmte Berufe, zum Beispiel der des Rechtsanwaltes oder Arztes, konnten nur noch unter erschwerten Bedingungen, in den meisten Fällen gar nicht mehr ausgeübt werden. Eine Arbeitserlaubniss wurde nur noch erteilt, wenn man einen offiziellen französischen Arbeitsvertrag vorweisen konnte. Nicht ohne Grund musste Lisette Model angesichts der repressiven politischen Realität in Frankreich, angesichts der wankelmütigen und schwieriger werdenden wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen für die zahlreichen Flüchtlinge in den 30er Jahren, annehmen, eines Tages zur Ausreise gezwungen zu werden und Europa verlassen zu müssen.
In Nizza, wo sie regelmäßig ihre Mutter und die jüngere Schwester Olga besucht, lernt sie 1934 den russisch-jüdischen Maler und Grafikdesigner Evsa Model kennen, der sein Atelier auf dem Montparnasse hatte. Ihre jüngere Schwester Olga, eine ausgebildete Fotografin, bringt ihr grundlegende Kenntnisse über den Umgang mit der Kamera bei, ebenso die ungarische Fotografin Rogi André, die mit ihren Porträts von zeitgenössischen Künstlern, Literaten und anderen Persönlichkeiten bekannt geworden ist. Sie vermittelt Lisette den Umgang mit einer Rolleiflex und streift mit ihr häufiger durch Paris, um Straßenszenen zu fotografieren. Rogi André war von 1928 bis 1932 mit André Kertész, einem angesehenen Fotografen, verheiratet. Durch ihren Einfluss lernt Lisette die Arbeiten von Kertész, Brassai und Eugène Atget kennen. Alle drei Fotografen schufen mit ihren Bildern ein bleibendes Denkmal der Stadt, und sicher mag der Kontakt zu ihrer Freundin Rogi André, der professionelle Hintergrund ihrer jüngeren Schwester Olga und die Arbeiten der in Paris ansässigen Fotografen Kertész, Brassai und Eugène Atget dazu beigetragen haben, eine echte Leidenschaft für die Fotografie zu entwickeln.
Die Serie ›Promenade des Anglais‹ im Sommer 1934 entstand mehr oder weniger als eine Art Testlauf, um die erhaltenen Anleitungen und Tipps zur Handhabung einer Rolleiflex Mittelformat-Rollfilmkamera, die sie zusätzlich zur Leica benutzte, durch ihre jüngere Schwester Olga und Rogi André in praxi anzuwenden (Westerbeck, 1998). Die ›Prom‹ war für sie eine Art Freilichtbühne, ein ›Jahrmarkt der Eitelkeiten‹, wo sie sich bevorzugt aufhielt und skurrile, gedrechselte, aufgesteifte, arrogante oder gelangweilte Flaneure beobachten und fotografieren konnte. Sie habe, so Lisette später, die Kamera ohne gesteigerten Ehrgeiz, ohne besondere Absicht eingesetzt. Es kam nicht darauf an »gut oder schlecht zu sein«. So entstehen unsentimentale, wenig schmeichelhafte Bilder einer privilegierten Klasse von wohlhabenden, eitlen, gleichgültig wirkenden, auch vereinzelt und unsicher scheinenden Müßiggängern. Gleichsam beiläufig entsteht auf diese Art der Grundstein ihrer fotografischen Laufbahn. Bereits 1935 wird ein Teil der in Nizza entstandenen Promenade-Serie im Rahmen eines kritischen Artikels über den reichen Mittelstand, in der linken Zeitschrift ›Regards‹ veröffentlicht.
Lisette Model in den USA
1936 heiratet sie in Paris Evsa Model, mit dem sie 1938 in die USA emigriert. In New York finden beide ihre neue Heimat. Lisette nimmt Kontakt zu verschiedenen einflussreichen Persönlichkeiten auf, darunter Ansel Adams, Walker Evans, Beaumont Newhall und Alexey Brodovitch, Art Director des angesehenen Modemagazin Harper’s Bazaar. In New York ließ sie sich von Straßenszenen, den Bars und Clubs, eilenden Beinen oder Spiegelungen inspirieren. Schon zwei Jahre später werden einige ihrer Aufnahmen in die gerade erst eingerichtete Abteilung für Fotografie im ›Museum of Modern Art‹ (MoMA) aufgenommen, dessen Kurator Beaumont Newhall ist. Außerdem folgen verschiedene Einzelausstellungen ihrer Arbeiten, etwa bei der Photo League, einer Vereinigung von New Yorker Arbeiterfotografen, die die Lebensbedingungen amerikanischer Arbeiter dokumentierten, 1943 im Art Institute in Chicago, 1946 in San Francisco und 1949 wiederum im MoMa. Ihre Haupteinnahmequelle hatte sie in der Zeit von 1941 bis etwa 1951 mit Auftragsarbeiten für die Modezeitschrift ›Harper’s Bazaar‹. Zusätzlich kommen in den vierziger Jahren weitere unterschiedlichste Auftragsarbeiten hinzu, beispielsweise für die Zeitschriften ›Look‹ und ›Ladies Home Journal‹ oder Aufträge Modeaufnahmen außerhalb des Atelieres, sowie Fotografien vom New Yorker Nachtleben.
Lisette Model galt inzwischen als eine herausragende und weithin anerkannte Fotografin. Mitte der fünfziger Jahre kehrt sie indessen der aktiven Fotografie den Rücken, da sie während der McCarthy-Ära in den frühen fünfziger Jahren erheblichem politischem Druck ausgesetzt ist. Ab 1949 konzentriert sich Lisette auf ihre Lehrtätigkeit und hält Vorlesungen über die Fotografie an der ›California School of Fine Arts‹ und ab 1951 auch an der ›New School for Social Research‹ in New York City. Bald gehört sie zu den bekanntesten Lehrerinnen für Fotografie in Amerika. Larry Fink (Fotograf und Guggenheim-Stipendiat von 1976), Eva Rubinstein (polnisch-amerikanische Fotografin) und Diane Arbus (Fotografin und später enge Freundin von Lisette Model) gehörten zu ihren Schülerinnen und Schülern. Sie vertrat die Auffassung, ›Sehen‹ nicht nur ein ständiger Lernprozess und für die Fotografie von großer Bedeutung sei; es gelte zudem, sich für sein Thema leidenschaftlich zu engagieren, wenn man es fotografieren wolle. Ihre Maxime war, dass man Motive, von denen man nicht berührt werde, denen man gleichgültig gegenüberstehe, erst gar nicht fotografieren solle, eine Haltung, die ihr die in Paris lebende Fotografin und Freundin Rogi André, einst empfohlen hatte.
Ihren Studenten empfahl Lisette Model deshalb, niemals auf den Auslöser zu drücken, ehe das Motiv sie nicht mit voller Wucht direkt in die Magengrube treffe (Bosworth, S. 164, 1984). Überhaupt entwickelte sie zum ›Schnappschuss‹ eine fast leidenschaftliche Beziehung, da sie dessen speziellen Stil und besondere Anziehungskraft auf die ihm zugrunde liegende Flüchtigkeit und Mangelhaftigkeit zurückführte (Sussman, S. 12, 2001). In den kommenden Jahren erhält Lisette zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem 1964 mit dem ›Guggenheim Fellowship‹. 1976 stirbt ihr Mann Evsa Model nach einem Herzanfall. 1981 verlieh ihr die ›New School‹ in New York die Ehrendoktorwürde der Schönen Künste.
Berenice Abbott weist mit Recht darauf hin, dass es nur wenigen Fotografen gelinge, das Leben in Zeiten allgemeiner Verwirrung unerschrocken zu betrachten. Für sie stehe die Fotografin deshalb an der Spitze dieser ›Elite‹ (Mulligan/Wooters, S. 621, 2012).
1983 stirbt Lisette Model in Greenwich Village, New York.
Text: © Fotografie | Dieter Johannsen
Literaturhinweise
Abbildung
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