Die Bedeutung des Fotografen Walker Evans
Der Fotograf Walker Evans, der als einer der »wirkmächtigsten Fotografen des 20. Jahrhunderts« gilt (Liesbrock, ›SZ‹ 07/2013), beklagt in einer Besprechung von 1931 zu sechs neu erschienenen Fotobüchern, dass schon bald nach Erfindung der Fotografie deren Bedeutung verloren gegangen sei. So habe die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts »die abenteuerliche Gestalt des Kunstphotographen« hervorgebracht, welcher »in Wirklichkeit ein erfolgloser Maler mit einem Sack voller mysteriöser Tricks« gewesen sei (Evans, 1997, S. 35).
Die Bedingungen, die Umstände so anzunehmen, wie sie vorzufinden sind: unverstellt, nüchtern, reduziert, sachlich. So wollte Walker Evans die Arbeit des Fotografen verstanden wissen. Diese Auffassung schien geprägt zu sein von so bedeutenden Autoren wie James Joyce, Charles Baudelaire, Gustave Flaubert oder Marcel Proust, allesamt Klassiker der Weltliteratur. Fotografische Bilder sollten ungeschönt sein, rein und klar wie die Werke des irischen Schriftstellers James Joyce, sollten unabhängig und frei erzeugt werden können (Brosowsky, 2014).
Der am 3. November 1903 in Saint Louis, Missouri, (im mittleren Westen der USA) geborene Walker Evans hatte eigentlich Schriftsteller werden wollen. Deshalb belegt er zunächst Philologie an verschiedenen Colleges der USA; ab 1926 folgt ein Studienjahr an der Pariser Sorbonne mit dem Schwerpunkt französische Literatur. Während dieser Zeit kann er bisweilen im Atelier des Portraitfotografen Paul Nadar (bürgerlich: Paul Tournachon, Sohn von Gaspard-Félix Tournachon) mitarbeiten, der in Paris zu jener Zeit eines der größten Portraitstudios unterhielt. Sehr wahrscheinlich reifte bereits hier der Entschluss, seinen Lebensunterhalt künftig als Fotograf bestreiten zu wollen. Evans gibt schließlich seinen ursprünglichen Berufswunsch auf, Schriftsteller zu werden und kehrt nach New York zurück. Dort wird er bis 1929 bei einem Börsenmakler in der Wall Street angestellt. Ab 1928 beschäftigt er sich autodidaktisch mit der Fotografie, wobei sein Interesse dem Leben auf den Straßen der Stadt gilt, das er bereits 1926 gegenüber dem Pariser Künstlerviertel der Bohème am Montmartre entwickelt hatte. Mit einer stets mitgeführten kleinen Rollfilmkamera entstehen seine ersten Aufnahmen. Er macht sich mit den Arbeiten der Fotografen Eugène Atget und August Sander vertraut und wird von ihnen nachhaltig beeinflusst. Bereits 1930 kommt es zu ersten Veröffentlichungen einiger Fotografien in einem Gedichtband von Hart Crane (amerik. Dichter, der sich 1932, im Alter von 32 Jahren, das Leben nimmt).
Es folgen Aufnahmen viktorianischer Häuser, Studioarbeiten, unter anderem mit Ben Shahn, einem Maler und späteren FSA-Fotografen, sowie Fotokampagnen auf Kuba und in den Südstaaten. Ab 1935 kommt es zur ersten Zusammenarbeit mit dem Museum of Modern Art (MoMA), in New York.
Konzentrierte Einfachheit, berührende Unmittelbarkeit und strenge Schönheit sind die Merkmale des dokumentarischen Stils eines unangepassten Intellektuellen. Dies erreicht Evans durch das bildnerische Frontalitätsprinzip, nur selten wird aus einem Winkel fotografiert. Im Einsatz ist ab 1933 vorzugsweise eine Mattscheiben-Großbildkamera (8 x 10 Zoll, 1 Zoll=2,54 cm), ab 1938 mehr und mehr eine doppeläugige Rollfilmkamera (2,25 x 2,25 Zoll). Bevorzugt wird eine meist kleine Blende, um ein hohes Maß an Schärfentiefe zu erreichen, die den strengen Realismus, den dokumentarischen, wertfreien Charakter betont und maximale Detailgenauigkeit in den Vordergrund stellt.
Mit Beginn der ›Großen Depression‹, die mit dem großen Börsencrash am 24. Oktober 1929 einsetzt, kommt es in den USA zu einer schweren Wirtschaftskrise und in der Folge zu einer deutlichen Verschärfung des bereits seit zehn Jahren bestehenden sozialen und wirtschaftlichen Elends in vielen ländlichen Regionen. In den kommenden vier Jahren schrumpft die Wirtschaft des Landes um 30%, die Arbeitslosenquote schnellt auf 25% hoch. Immer mehr Farmer und Pächter fahren eine schlechte Ernte ein und müssen ihr Land verkaufen, Landarbeiter und Pächter geraten in Not und verlieren ihre Arbeit. (Brix, 1997).
In dieser verzweifelten Situation setzen viele Amerikaner ihre Hoffnungen auf den Demokraten Franklin D. Roosevelt, der 1932 zum 32. Präsidenten der USA gewählt wird und auf die schwere Wirtschaftskrise mit der Politik des ›New Deal‹ ab 1935 mit einer Reihe von Wirtschafts- und Sozialreformen reagiert. Zum engsten Beraterstab gehört der Ökonomen Rexford G. Tugwell. Auf dessen Anregung gründet Roosevelt am 1. Mai 1935 die dem Landwirtschaftsministerium unterstellte Bundesbehörde ›Resettlement Administration‹ (RA). Tugwell, der auch Professor für Ökonomie an der Columbia University ist, wird deren Direktor. Aufgabe der RA ist die Vergabe von Beihilfen und billigen Krediten für die vielen in Not geratenen Farmer und Pächter. Nicht-sesshafte, wandernde Landarbeiter sollten auf regierungseigenen Farmen wieder angesiedelt (resettled) werden, um die Landwirtschaft zu kollektivieren. Unter Anleitung von Fachleuten sollten zudem moderne Techniken zum Einsatz kommen.
Für die Dokumentation der Rooseveltschen Reformen des ›New Deal‹ wird im selben Jahr die Historische Abteilung (Historical Section) eingerichtet, eine Unterabteilung der Informationsabteilung (Information Division). Ihre Aufgabe bestand darin, die Arbeit der Resettlement Administration mit Fotografien und soziologischen Arbeiten zu dokumentieren. Tugwell setzt den 42-jährigen Ökonomen und Regierungsbeamten Roy Emerson Stryker als Leiter der Historischen Abtreilung ein, mit dem er bereits an der Columbia University zusammen gearbeitet hatte.
Walker Evans wird 1935 als einer der ersten Fotografen beauftragt, die wirtschaftlichen Verhältnisse der Landbevölkerung, Wanderarbeiter, Pächter und Farmer fotografisch zu dokumentieren. Neben Evans werden später auch die Fotografinnen Dorothea Lange und Marion Post Wolcott sowie die Fotografen Arthur Rothstein, Carl Mydans, Jack Delano, John Vachon, John Collier jr., Gordon Parks, Theodor Jung, Paul Carter, Ben Shahn und Russell Lee berufen. Sie alle sollten die Armut, Not, Entwurzelung, Hoffnungslosigkeit, die Härten und den Kummer der Farmer fotografisch dokumentieren und die Amerikaner mit ihren Bildern von der Notwendigkeit staatlicher Hilfsmaßnahmen für die Farmer und Kleinbauern überzeugen.
Ben Shahn, der eigentlich Maler und Graphiker war und von der Fotografie nicht viel verstand, bekam von Stryker eine Leica ausgehändigt mit den Worten: »Gehn Sie und spielen Sie damit rum.« (in: Photojournalismus, a.a.O., Seite 120). Shan konnte mit seiner Kamera die Menschen relativ unbemerkt fotografieren, da er über einen Sucher verfügte, der um 90° abgewinkelt war. Schließlich fertigte er einige Hundert Aufnahmen für Stryker an.
Roy Stryker erstellte für die Fotografen eine Art ‚Regieanweisung‘ an, sogenannte ’shooting scripts‘ in allgemeiner Form. Diese sollten für jeden Fotografen gelten. Andere Anweisungen waren speziell für einzelne Fotografen in den jeweiligen Einsatzgebieten zugeschnitten, mit dem Ziel, dass jene „nützliche“ und eine bestimmte Anzahl von Bildern im Sinne der Behörde produzieren, die den politischen Interessen der FA von Nutzen sein sollten. Freilich stand diese Form der Reglementierung im lebhaften Widerspruch zum Bestreben des sich als Künstler verstehenden Walker Evans, der an einer wertfreien, reduzierten, ästhetischen und sachlichen Darstellung interessiert war (vgl. Melanie Wimmer, a.a.O., Seite 34). Er blieb seinem Anspruch treu und fotografierte nur solche Motive, die er für richtig hielt, ignorierte direkte oder indirekte Vorgaben durch Stryker.
Da es den Anweisungen entsprechend erforderlich war, die Aufnahmen unmittelbar nach der Belichtung nach Washington zu schicken, hatte der Fotograf von da an keinen Einfluss mehr auf die Auswahl der Bilder. Deshalb nahm Evans in der Regel mehrere Apparate mit, um dasselbe Motiv zweimal anzufertigen. Eines war für seine private Sammlung vorgesehen, das andere schickte er zur FSA (Sante, 2001).
1936 erhalten der Fotograf Evans und der Autor James Agee den Auftrag des Magazins ‚Fortune‘, eine Reportage über die Lebensbedingungen der Landarbeiter in Alabama, im Süden der USA, anzufertigen. Für diese Zeit ließ Evans sich von der FSA beurlauben. Im Gegenzug musste er die Rechte an seinen Bildern, die er für die Reportage anfertigte, an die FSA abtreten. Der Artikel sollte unter dem Fortune-Titel ›Drei Pächterfamilien‹ erscheinen. Beide halten sich deshalb im Sommer desselben Jahres für einige Wochen bei den drei Farmerfamilien Tengle, Fields und Burroughs auf, um deren Lebensverhältnisse, Ausweglosigkeit und Not erfassen, beschreiben und fotografieren zu können. Die Zusammenarbeit für die Reportage wurde mit den drei Familien zuvor vertraglich festgelegt. Der Artikel wurde von Fortune schließlich abgelehnt, da er den Rahmen der Zeitschrift sprengen würde, zu lang und zu pompös erschien. Entstanden ist stattdessen das Buch ‚Let Us Now Praise Famous Men‘ (‚Preisen will ich die großen Männer‘), das 1941 erschien, von dem jedoch im ersten Jahr lediglich 600 Exemplare verkauft wurden. Erst 1960 wird die Neuauflage des Buches erfolgreich und schließlich zum Klassiker.
1937 wurde die ›Farm Security Administration‹ (FSA), als Nachfolgeorganisation der gescheiterten Resettlement Administration (RA) gegründet, mit dem Ziel, die Farmer mit billigen Krediten beim Kauf von wirtschaftlichen Landflächen zu unterstützen. Auf der einen Seite sollten die Lebensbedingungen der in wirtschaftliche Not geratenen Landbevölkerung, der Wanderarbeiter, Pächter und Farmer dokumentiert und öffentlich gemacht, auf der anderen Seite mit den New-Deal-Reformen gezielte Hilfsprogramme aufgelegt werden. Seit Beginn der 1921er Jahre konnten viele Farmer ihre Hypotheken nicht mehr zurückzahlen, da die amerikanischen Landwirtschaft vornehmlich für die gestiegene Lebensmittelnachfrage der Alliierten des ersten Weltkrieges produziert hatte und der Exportmarkt in den folgenden Jahren fast zum Erliegen kam. Jährlich mussten von den etwa 30.000 Banken etwa 600 aufgeben. 1933 gab es schließlich nur noch 15.000 Banken.
1937, nach nur 18 Monaten, verließ Walker Evans die FSA. Grund waren die Auseinandersetzungen mit Roy Stryker, dessen Reglementierungen und indirekten Vorgaben er nicht akzeptieren wollte. Auch hatte er kein Interesse daran, dass seine Bilder den politischen Zielen der FSA nutzen und propagandistisch verwendet werden sollten. Unabhängigkeit, Wahrung der künstlerischen Autonomie, das waren für Evans unverzichtbare Parameter. Trotz der Auseinandersetzungen gestand Stryker einmal, das Evans einer der wenigen FSA-Fotografen sei, von denen er etwas lernen konnte:
»Ich sah seine Bilder, ich ging nachts mit ihm spazieren und sprach mit ihm. Er sagte mir, wozu der Photgraph da sei und was er zu tun hätte … Ich geriet in Zwiespalt; meine eigene, selbstbezogene Auslegung des Projekts stand gegen die selbstlose Erklärung des Photographen; ich habe aus beiden gelernt.« (LIFE, Photojournalismus, 1972, S. 124).
Vielleicht liegt hier der Schlüssel, für die immens ausdrucksstarken Fotografien, die Walker Evans während seiner FSA-Zeit von 1935 bis 1937 hergestellt hatte. Sie haben nichts von ihrer kanonischen Wirkung eingebüßt und gelten bis heute als Meilensteine der dokumentarischen Fotografie.
1938 ist Evans der erste Fotograf, dem die Ehre zuteil wird, mit 87 seiner Fotografien im New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) in Form einer Einzelausstellung zusammen mit der Publikation ›Walker Evans American Photographs‹ gezeigt zu werden (2013 wird diese Ausstellung anlässlich des 75. Jahrestages der Einzelausstellung von 1938 wiederholt).
Im selben Jahr fotografiert Evans in der New Yorker U-Bahn unauffällig Menschen, die ihm gegenübersitzen, wobei er ein Weitwinkelobjektiv zwischen zwei Knopflöchern seines Mantels anbrachte und durch seinen Ärmel hindurch den Kabelauslöser führte. Begleitet wird er dabei von der Fotografin Helen Levitt. Da er möglichen Klagen derjenigen aus dem Wege gehen wollte, die ohne ihr Wissen fotografiert wurden, erschien der Fotoband erst im Jahre 1966 unter dem Titel ›Many Are Called‹ (Viele sind berufen). Diese Aufnahmen gelten heute als Meisterwerk, da die Fotografierten keine aufgesetzte Pose einnehmen. Evans gelingen seltene Aufnahmen von allen Gesellschaftsschichten New Yorks, ob Matrosen, Verkäuferinnen, Ganoven, Hafenarbeiter oder Einwanderer.
Ab 1943 arbeitet Evans für unterschiedliche Auftraggeber, zunächst für den Pressekonzern Time-Life; von 1945 bis 1965 ist er fest angestellter Bildredakteur bei ›Fortune‹ und wird aufgrund seiner langjährigen Mitarbeit zum Mitherausgeber ernannt. Von 1965 bis 1974 erhält Evans an der Yale School of Art and Architecture eine Professur für Fotografie. Er stirbt am 10. April 1975 in New Haven, Connecticut.
Evans gehört heute zu den einflussreichsten Fotografen des 20. Jahrhunderts. Er schuf mit seinen Fotografien nüchterne, zeitlose, unmittelbare, authentische, elegante und kompromisslose Kunstwerke. Sie haben viele derjenigen Fotografen inspiriert, die selbst Teil der klassischen Fotografie geworden sind. Dazu gehören etwa Robert Frank, Diane Arbus, Lee Friedlander oder Helen Levitt.
Evans selbst bezeichnete seine Technik einst als ›dokumentarisch im Stil‹, die an einer nüchternen und sachlichen Erfassung der Wirklichkeit interessiert und dem Ethos des Journalisten, des Dokumentaristen unterstellt war, andererseits freilich den künstlerischen, allgemeingültigen Anspruch, den unabhängien Charakter seines subjektiven Bewusstseins gegenüber dem Sujet nicht aus dem Auge verlieren wollte. Das künstlerische Werk des Fotografen Walker Evans umfasst etwa 45 Jahre. Doch den stärksten, nachhaltigsten Eindruck hinterlassen seine Werke als FSA-Fotograf aus der Zeit von 1935 bis 1937. Längst gehören seine Aufnahmen zum klassischen Repertoire der Dokumentarfotografie mit kanonischem Stellenwert. »Vieles von dem, was Evans photographierte, war verwahrlost und heruntergekommen, aber immer verlieh seine Deutung den Dingen eine eigenartige Würde.« (Newhall, 1984, S. 246)
Ende der fünfziger Jahre äußerte sich Robert Frank, dessen Arbeiten von Evans wesentlich geprägt wurden und der fest davon überzeugt war, dass ein Fotograf dem Leben niemals neutral gegenüber stehen dürfe, über seinen Mentor: »Als ich zum erstenmal Fotografien von Walker Evans sah, kam mir ein Satz von Malraux in den Sinn: ‚Es gilt, Schicksalhaftes in Bewusstes zu verwandeln.‘ Es mag unbescheiden klingen, wenn man so viel von sich selbst verlangt. Doch wie sonst soll man seine Misserfolge und seine Mühe rechtfertigen?« (Frank, 1981. S. 288)
Text: © Fotografie | Dieter Johannsen
Literaturhinweise
Abbildung
- Buchcover zu ›Walker Evans Amerika. Bilder aus den Jahren der Depression‹ Herausgegeben von Michael Brix und Birgit Mayer, Schirmer/Mosel Verlag, München 1997. Bildverwendung mit freundlicher Genehmigung des Schirmer/Mosel Verlages, München