Kunsteinfluss

Der Kunsteinfluss und die sozialen Folgen

Die sozialen Auswirkungen der Fotografie, den Kunsteinfluss, den sie nehmen konnte, sah Baudelaire, der sich damit schon sehr früh mit deren sozialen Folgen beschäftigte, weniger in ihren spezifischen Leistungen oder Fehlleistungen. Vielmehr beschäftigte er sich mit dem Einfluss der massenhaft produzierten und reproduzierten Fotografie auf die Kunst und ebenso mit den tiefgreifenden Veränderungen, die das Medium im breiten Publikum bewirkte, das ja potentieller Abnehmer und damit Konsument war. Er gelangt dabei zu einer bedeutungsvollen Neuformulierung des bis dahin gültigen traditionellen Kunstwahrnehmungsmodells.

Baudelaire korrigiert die bisherige Vorstellung, wonach die Wirkung eines Werkes allein von diesem ausgeht, dahingehend, dass zwischen dem Publikum und dem Künstler beziehungsweise dem Kunstwerk eine Wechselwirkung anzunehmen sei. Die ästhetische Erziehung und Geschmacksbildung war mit dem Entstehen des neuen Mediums nicht mehr einzig den traditionellen Bildkünsten überlassen, vielmehr ist

»ein nicht zu unterschätzender ›Miterzieher‹ . . . aufgetaucht, der mit dem Hebel der von ihm geformten ästhetischen Erwartungen der Massen die Geschlossenheit der Künste aufsprengt.«191

Gleichwohl begriff Baudelaire die sich neu entfaltende Industrie als eine Art Liquidationsmodus192 gegenüber der Kunst. Zudem fasste er die realistisch-naturalistische Abschilderung der bürgerlichen Gesellschaft als Zustimmung zur rapide fortschreitenden, industriell-sozialen Veränderung auf.

»In diesen kläglichen Tagen ist eine neue Industrie hervorgetreten, die nicht wenig dazu beitrug, die platte Dummheit in ihrem Glauben zu bestärken und was etwa noch Göttliches im französischen Geiste zurückgeblieben sein mochte, zugrunde zu richten.«193

In Frankreich der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts expandierte das fotografische Gewerbe, einschließlich der um sich greifenden Atelierfotografie, unaufhaltsam zu einer riesigen Industrie, die Baudelaire als ernsthaften Rivalen der Kunst begriff.

Immerhin eroberte die Fotografie, wie ich bereits beschrieben habe, in sehr kurzer Zeit das Gebiet der Porträts und war infolgedessen für Graveure, Miniatur- und Porträtmaler zu einer vernichtenden Konkurrenz geworden. Überdies setzte diese Entwicklung in einer Zeit ein, in der die Portraitmode in fast allen bürgerlichen Kreisen zum wichtigsten Mittel der Selbstdarstellung wurde und viele Künstler gerade aus diesen Porträtaufträgen ihre Haupteinnahmen bezogen, um überhaupt erst als Maler existieren zu können.194

Diese Existenzgrundlage war nun mit einem Male verloren, zumal die Fotografie erheblich billiger war und darüber hinaus noch den Vorzug größerer Exaktheit bot. Kein Wunder also, wenn Baudelaire mit seiner schon 1859 formulierten Kritik gegenüber der Fotografie seine grundsätzliche Opposition gegen Entwicklungen der industriellen Gesellschaft und deren profane Abschilderung195 im Dienste breiter Geschmacksvorstellungen zum Ausdruck brachte.

Er wertete die Fotografie als ein Medium, das der Eigenliebe des Publikums schmeichelte, einem Publikum, das von Kunst nichts verstand und der Trivialität des Faktischen den Vorzug gab.196

»Seit diesem Augenblicke kam die ganze unsaubere Gesellschaft wie ein einziger Narcissus herbeigestürzt, ihr triviales Bildnis im Spiegel zu betrachten.«197

Seine Kritik richtet sich auch gegen jene Fotografen, die von Anfang an der Auffassung waren, dass die Fotografie eine zweifelsfreie Wiedergabe der äußeren Realität darstelle. Diese Auffassung entsprach freilich auch dem zu jeder Zeit vorherrschenden Positivismus, der eine wirklichkeitsgetreue Wiedergabe der Natur forderte; und Baudelaire sah in den allgemein verbreiteten Bestrebungen, die Natur zu kopieren, ohne ihr Wesen zu kennen, eine gegenüber der Kunst feindlich eingestellte Lehre.198
Der wahre Künstler dürfe nur so darstellen, wie er sieht und fühlt und muss dabei seiner eigenen Natur treu bleiben.

» ›Und so wäre denn die Industrie, die ein mit der Natur identisches Resultat uns geben würde, die absolute Kunst.‹ Ein rächerischer Gott hat die Stimmen dieser Menge erhört. Daguerre ward sein Messias. Und nunmehr sagte sie sich: ›Da also die Fotografie uns alle wünschenswerten Garantien für Genauigkeit gibt‹ – das glauben sie, die Sinnverwirrten! – ›so kommen wir notgedrungen zu der Erklärung: Die Kunst ist die Fotografie.‹ «199

Da nun gerade das Kunstwerk Individualität, Kreativität, Hand- und Kopfarbeit als Modi zur Voraussetzung haben und im fotografischen Gewerbe diese Eigenschaft zur Liquidierung anstanden, sah Baudelaire im letzteren gleichsam einen Zufluchtsort für erfolglose und unbegabte Maler, die mit dazu beitragen,

»auf wohlfeile Art im Volke den Widerwillen gegen die Geschichte und die Malerei zu verbreiten.«200

Die Industrie, und als solche wurde auch die Fotografie von Baudelaire charakterisiert, hatte mit der Kunst nichts zu tun. Im Gegenteil: sie galt ihm als Mittel, das zur Verarmung oder gar Beseitigung des künstlerischen Ausdrucks viel beigetragen hat.

»Wenn die Industrie ins Reich der Kunst eindringt, so wird sie deren tödlichste Feindin; und: die Verwirrung der Funktionen behindert die gute Ausübung jeder einzelnen.«201

Die fotografische Industrie, als Repräsentant eines zweifelhaften Fortschritts und die Kunst als Ausdruck einer schöpferischen Imagination202 stehen, Baudelaire zufolge, in einem unversöhnlichen Gegensatz zueinander. Ein Eindringen der Fotografie in die »Domäne des Unantastbaren und Imaginären«203 oder gar die Übernahme einiger Teilbereiche der Kunst bedeutete für ihn eine grundlegende Entwertung bis hin zur völligen Zerstörung der letzteren. Vielmehr soll die Fotografie zu ihrer eigentlichen Aufgabe zurückkehren, die nur darin bestehen kann,

»der Wissenschaften und Künste Dienerin zu sein, doch eine recht bescheidene Dienerin, ähnlich dem Buchdruck und der Stenografie, die niemals noch die Literatur erschufen oder ergänzten.«204

Baudelaire setzte sich entschieden für die Mobilisierung der Phantasie, der »Königin der Fähigkeiten«205 ein, sah jedoch ihren führenden Anspruch durch die massenhafte und wohlfeile Verbreitung der Fotografie ernsthaft bedroht.

Ebenso diagnostiziert Benjamin mit dem Auftreten der Fotografie (und des bewegten Bildes), wie schon Baudelaire siebzig Jahre zuvor, grundlegende Veränderungen beziehungsweise Liquidationsphänomene der Kunst.
Zwar habe ich im Abschnitt »Kommerzielles Portrait und Auraverfall« diese Phänomene schon beschrieben, möchte sie aber in diesem Zusammenhang noch einmal kurz zusammenfassen und dabei noch einen anderen Aspekt herausarbeiten:
Das wichtigste Moment, das Benjamin in seinem Aufsatz ›Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit‹ in Bezug auf die Fotografie und den Film hervorhebt, ist der Verlust der Aura. Indem das Kunstwerk nun ohne weiteres reproduzierbar wurde, ging das Hier und Jetzt des Originals verloren. Im Hier und Jetzt des Originals lag für Benjamin der Inbegriff der Echtheit. Die Einzigartigkeit geht in dem auf Reproduzierbarkeit angelegten Kunstwerk nunmehr verloren. Das Original ist von der Reproduktion nicht mehr unterscheidbar; von einem Negativ sind zum Beispiel beliebig viele Abzüge möglich. Infolgedessen macht es keinen Sinn, so Benjamin, die Frage nach dem echten Abzug zu stellen. Ebenso erzwingt jedes Filmwerk deren massenhafte Verbreitung, da schon die Produktion so teuer ist,

»dass ein Einzelner, der z.B. ein Gemälde sich leisten könnte, sich den Film nicht mehr leisten kann.«206

Damit erfuhr die Kunst im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, in ihrer Anpassung an die Masse, eine umfassende Funktionsveränderung.

»Im Augenblick (. . .) da der Maßstab der Echtheit an der Kunstproduktion versagt, hat sich auch die gesamte soziale Funktion der Kunst umgewälzt. An die Stelle ihrer Fundierung aufs Ritual tritt ihre Fundierung auf eine andere Praxis: nämlich ihre Fundierung auf Politik.«207

Auf der Grundlage der Fotografie haben somit die modernen Reproduktionsmittel die Autorität der Kunst weitgehend zerstört. Die Kunstwerke sind in Gestalt reproduzierter Bilder von ihrer abgeschiedenen Sonderstellung losgelöst worden. Berger fasst diesen Autoritätsverlust zusammen, wenn er schreibt:

»Zum erstenmal überhaupt sind Bilder aus dem Bereich der Kunst beiläufig geworden, sind überall zu finden, sind unwesentlich, benutzbar, wertlos und frei. Sie sind in der gleichen Art um uns, in der uns eine Sprache umgibt. Sie sind eingegangen in den Strom des Lebens, über das sie nun keine, in ihnen selbst liegende Macht mehr haben.«208

Eine Werbeaktion, die vor wenigen Wochen eingeleitet wurde und vorzugsweise in Berliner U-Bahnhöfen auf riesigen Plakatwänden zu sehen ist, belegt übrigens diese Auffassung sehr drastisch. So wird beispielsweise ›Der Raub der Töchter des Leukippos‹ von Rubens unter der Werbezeile »Ganz schön prall, Herr Rubens« zu einer »Schutzgebühr« von 30,- DM angeboten. Nicht anders ergeht es dem Gemälde ›Versuchung des Heiligen Antonius‹ von Hieronymus Bosch. Unter der Überschrift »Das ist ja die Hölle« wird es für den gleichen Betrag angeboten, wobei das Wort »Hölle« mit einem dunklen Rot unterlegt wurde.

Der Verlust der Autorität korrespondiert mit dem Verlust des Kultwertes.209 Um diese These zu untermauern, nimmt Benjamin zuvor eine Unterscheidung verschiedener Rezeptionsweisen von Kunstwerken vor, die kultische auf der einen und die wertmessende auf der anderen Seite. Je weiter die Kunstproduktion in die Vergangenheit reicht, umso eindeutiger stehen deren Gebilde im Dienste des Kultes.210 So sind beispielsweise bestimmte Götterstatuen, Madonnenbilder oder Reliquiarien nur einem kleinen Personenkreis zugänglich, Fresken oder Skulpturen an mittelalterlichen Gebäuden sind dem Betrachter nicht sofort sichtbar, worin ein Teil vom Kult sich ausdrückt.

»Mit der Emanzipation der einzelnen Kunstübungen aus dem Schoße des Rituals wachsen die Gelegenheiten zur Ausstellung ihrer Produkte.«211

Zum Beispiel ist die Ausstellung einer Portraitbüste, aufgrund ihrer Mobilität, größer als die einer ganzen Statue, die Ausstellbarkeit eines Gemäldes ist größer als die eines Freskos, die Ausstellbarkeit eines Films oder einer Fotografie ist größer als die einer gotischen Kirche u.a.m. Das heißt, je vielfältiger die Methoden der technischen Reproduktion von Kunstwerken wurden, umso mehr wuchs deren Ausstellbarkeit. Während im Mittelalter das Gewicht des Kunstwerks auf seinem Kultwert lag, liegt nun, im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit, das Gewicht des Kunstwerks auf seinem Ausstellungswert. In der Fotografie und im Film sieht Benjamin »die brauchbarsten Handhaben zu dieser Erkenntnis.«212

Im frühen Portrait, in »der Erinnerung an die fernen oder abgestorbenen Lieben“,213 findet der Kultwert der Fotografie seinen letztmaligen Ausdruck. Je mehr aber der Mensch aus der Fotografie sich zurückzieht, umso überlegener tritt der Ausstellungswert dem Kultwert entgegen. In den Aufnahmen Atgets, der um 1900 in Paris menschenleere Straßen, Hinterhöfe, verwitterte Hauseingänge und Bordelle, Parkanlagen und leere Caféhausterassen auf ca. 4600 Platten abgelichtet hat,214 sieht Benjamin die historischen Beweisstücke. Atget hat in seinen Fotografien immer wieder und eindringlich die entfremdeten Aspekte zwischen Umwelt und Mensch festgehalten. Menschliche Aktivität spiegelt sich allenfalls in den Warenauslagen der Geschäfte. Viele dieser Aufnahmen weisen eine eigentümliche Stimmungslosigkeit auf und sind, mit Benjamin, leer wie ein Tatort.

»Ihnen ist die freischwebende Kontemplation nicht mehr angemessen. Sie beunruhigen den Betrachter, er fühlt: zu ihnen muss er einen bestimmten Weg suchen.«215

Wenn aber in den vielen Fotografien Atgets auch Menschen auftauchen, so stehen sie weniger als Individuen, sondern als Prototypen einer seelenlosen und entfremdeten Warenwelt. Gerade hierin liegt das Verdienst Atgets. Er

»desinfiziert als erster die stickige Atmosphäre, die die konventionelle Porträtfotografie der Verfallsepoche verbreitet hat«216

und entreißt damit die Fotografie dem auratischen Dasein.
In diesen Leistungen, den Leistungen einer surrealistischen Fotografie, sieht Benjamin eine heilsame Entfremdung zwischen Umwelt und Menschen vorbereitet, da sie

»dem politisch geschulten Blick das Feld freimacht, dem alle Intimitäten zugunsten der Erhellung des Details fallen.«217

Einzig in der sachlichen Sicht einer entfremdeten Umwelt, bedingt durch uneingeschränktes Engagement an der Sache, liegt die Errungenschaft der fortschrittlichen Fotografie um 1910.218

Die Überwindung des Einmaligen durch deren Reproduzierung einzig zugunsten einer Einsicht vermittelnden Ausstellbarkeit, bleibt freilich nur auf wenige Fotografen, wie z.B. Eugène Atget, August Sander, Brassai, Walker Evans oder Paul Strand beschränkt. In Atget sieht Benjamin zwar einen Virtuosen der Fotografie, der den »Pol höchster Meisterschaft erreicht hat«, gleichzeitig sieht er in Atget erst deren Vorläufer.