Wertvorstellungen

Wertvorstellungen und soziale Stellung im künstlerischen Portrait

War die Portraitfotografie, die etwa ab Mitte des 19. Jahrhunderts im Mittelpunkt der Fotografie stand, bisher nur einer klei­nen, wohlhabenden Schicht vorbehalten, rekrutierte sich nun aus diesen kleinbürgerlichen Schichten ein neuer Abnehmerkreis, die in dem neuen Medium die Möglichkeit sah, ihre soziale Stellung zum Ausdruck bringen zu können. Von jeher galt gerade das Portrait als das geeignetste Mittel, Repräsentationswünsche, Würde, Ernst, einen distinguierten Lebensstil, kurz, eben jene bürgerli­chen Wertvorstellungen zu dokumentieren, die geeignet waren, auf eine gehobene gesellschaftliche Stellung zu verweisen.

In der frühen Portraitfotografie lassen sich nun zwei entgegengesetzte Entwicklungslinien, die neben einander herliefen, unterscheiden. Vom ästhetischen Gesichts­punkt aus betrachtet, erreichte die eine mit noch primitiver Technik ein hohes Maß an künstlerischer Vollendung und inhaltlicher Relevanz, wenngleich die diese Entwicklungslinie repräsentierenden ersten Künstlerfotografen nie einen Kunstanspruch hegten.

»Sie überließen den Kunstanspruch jenen Geschäftsfo­tografen, die mit sinkendem künstlerischem Niveau ihrer Arbeit diese um so eifriger dem Publikum als Kunst schmackhaft zu machen versuchten.«33

Vielmehr ging es diesen zumeist aus Künstlerberufen stammenden ersten Fotografen wie Hill, Nadar, Le Grey, Carjat und Robinson darum, sich intensiv mit der Persönlichkeit des Modells, weniger mit dessen Wertvorstellungen, auseinanderzusetzen und so den charakteristischen Ausdruck, den eigentlichen Gehalt herauszuarbeiten.

Spektakuläre Posen und technische Hilfsmittel wie Kulisse, Säule, rokokogeschnitzte Stühle, Retusche, Kolorierung u.a.m. wurden entschieden abgelehnt.
Wichtigstes Bildelement und bestimmend für die ästhe­tische Qualität der frühen Portraitfotografie ist zweifellos das Eigenleben des Gesichts, die das Bild beherrschende Physiognomie, Die Bewegungen des Körpers dienen – besonders in den Aufnahmen Nadars – nur dazu, ihren Ausdruck zu unterstreichen. In den Gesichtern spiegelt sich dem Betrachter noch ein seltener Ausdruck der Verinnerlichung wieder.
Die frühe Portraitfotografie Nadars, Hills u.a. wird von Freund als erste Stilepoche charakterisiert, die insofern noch eine authentische Kunst darstellt, ohne betonte Darstellung von vorherrschenen Wertvorstellungen, als zudem noch fast ohne jegliches Geschäftsinteresse durch­geführt worden ist. Zwischen Aufgenommenen und Foto­grafen bestanden zudem häufig freundschaftliche Bezie­hungen, die für das Gelingen des Porträts von ent­scheidender Bedeutung waren.34

Für Benjamin kam es in der frühen Portraitfotografie zu einer Berührung von Gegensätzen. Die exakteste Technik konnte ihren Hervorbringungen gleichsam einen magischen Wert einverleiben, den ein gemaltes Bild nie aufzuweisen imstande war.

»Aller Kunstfertigkeit des Fotografen und aller Planmäßigkeit in der Haltung eines Modells zum Trotz, fühlt der Beschauer unwiderstehlich den Zwang, in solchem Bild das winzige Fünkchen Zufall, Hier und Jetzt zu suchen, mit dem die Wirklichkeit den Bild­charakter gleichsam durchsengt hat, die unscheinbare Stelle zu finden, in welcher, im Sosein jener längst­vergangenen Minute das Künftige noch heute und so beredt nistet, dass wir, rückblickend, es entdecken können.«35

Den magischen Gehalt, den das frühe Kunstportrait auf­weist, leitet Benjamin aus der Differenz der Wahrneh­mung der Kamera und jener des Auges ab. An die Stelle eines vom Menschen mit Bewusstsein durchwirkten Raumes trete ein unbewusst durchwirkter. Das Optisch-Unbewusste erschließe sich erst durch die Fotografie selbst. Zugleich eröffne sie physiognomische Aspekte, die bisher unbeachtet blieben; Aspekte aber auch, welche nun groß und formulierbar geworden seien, um die Dif­ferenz von Technik und Magie als historische Größe auszuweisen.
So sieht Benjamin in der frühen Portraitfotografie das letztmalige Wirken der Aura.

»Diese ersten reproduzierten Menschen traten in den Blickraum der Fotografie unbescholten oder besser gesagt unbeschriftet… Das menschliche Antlitz hatte ein Schweigen um sich, in dem der Blick ruhte.«36

Die in der Portraitfotografie noch enthaltenen Möglichkeiten führt Benjamin darauf zurück, dass zwischen Aktualität und Foto eine Berührung noch nicht stattgefunden hat. Aufgrund der noch geringen Lichtempfindlichkeit der Platten sind beispielsweise viele Bildnisse von Hill, der sich bemühte, seine Aufnahmen wie Gemälde wirken zu lassen, in stiller Abgeschiedenheit entstanden.

Das technische Verfahren veranlasste die Modelle,

»nicht aus dem Augenblick heraus, sondern in ihn hin­ein zu leben; während der lagen Dauer dieser Aufnahmen wuchsen sie gleichsam in das Bild hinein und traten so in den entschiedensten Kontrast zu den Erscheinungen auf einer Momentaufnahme.«37

Ebenso stellt Kahmen in seiner Arbeit heraus, dass noch die Physiognomie und in ihr der Blick das Bild aus­mache, die Pose habe noch nicht entfremdet eingegrif­fen. Zwar sei das Gesicht der Kamera nahe gerückt, doch halte eine gewisse Scheu vor dem Apparat den portraitierten in reservierter Distanz.38

Diese Auffassung wird meines Erachtens in den Portraits von Baudelaire, Gustave Doré, Sarah Bernhardt, Poe, Schelling, Corot und Victor Hugo eindrucksvoll be­legt.39