Praxis

Legitimationsfunktion und die Praxis des Fotografen

»Nicht der Automatismus eines Apparates gegenüber einem Objekt oder Ereignis, geschweige denn das Sein des zu Fotografierenden selber, bestimmen das visuelle Verhalten des Subjektes gegenüber dem Objekt, die Praxis des Fotografen.«184

So konstituiert die Wahrnehmung und vollzogene Fixierung optischer Fakten mit Hilfe des fotografischen Apparates zugleich die der Stellung des Fotografen gegenüber der äußeren Realität. Eben weil die im Bild verfügbar gemachten Fakten über eine Praxis vermittelt sind, kann die Fotografie nicht zu einem objektiven oder neutralen Medium proklamiert werden. Wenn dies doch geschieht, so ist die vorgefasste Meinung, nach Schaffernicht, Ausdruck einer »usurpierten Verwendungsabsicht« und somit alles andere als der Beweis einer unterstellten Objektivität.

Obwohl die Fotografie einer Orts- und Zeitbindung unterliegt, ist es dem Fotografen nahezu uneingeschränkt möglich, nach eigener Wahl an irgendeinem Ort und zu einer beliebigen Zeit zu fotografieren; also sind Orts- und Zeitwahl die ersten Prämissen seiner fotografischen Praxis. Schaffernicht stellt fest, und darauf hat auch Bourdieu schon hingewiesen, dass Fotografien stets das Verhältnis zwischen der äußeren Realität und das auf diese Realität bezogene Reagieren des Fotografen dokumentieren. Der Fotograf findet die darzustellenden Objekte in der räumlichen Totale und zeitlichen Bewegung vor und reduziert sie in seinen Aufnahmen zu zweidimensionalen Ausschnitten, die dem Zeitablauf entzogen sind.

Insofern kann in der fotografischen Wahrnehmung keineswegs ein abstrakter Vorgang gesehen werden. Vielmehr stellen die fotografischen Absichten zielgerichtete Handlungen des Fotografen dar, die von seinen materiellen Möglichkeiten, seinem gesellschaftlich-politischen Bewusstsein, seinem fachlichen Wissen und seiner physisch-psychischen Verfassung determiniert werden. In den Resultaten der Praxis drückt sich gleichermaßen politisches Bewusstsein wie beispielsweise fototechnisches Können aus; sie verdeutlichen die Art und Weise der Praxis: ob sie ornamentalen, sozialkritischen oder beispielsweise affirmativen Charakters sind.185

In diesem Zusammenhang soll auf eine vielzitierte Brechtäußerung hingewiesen werden, die besagt, daß die einfache Abschilderung der Realität, beispielsweise der Kruppwerke oder der AEG, noch nichts über die Betriebe aussagt.

»Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht. Die Verdinglichung der menschlichen Beziehungen, also etwa die Fabrik, gibt die letzteren nicht mehr heraus.«186

Aufnahmen, die zum gleichen Zeitpunkt und vom selben Motiv gemacht werden, können im visuellen und inhaltlichen Resultat so grundverschieden ausfallen, dass sie bei dem Betrachter zu völlig entgegengesetzten Meinungsbildern über das Dargestellte führen können. So lässt sich eine Fabrik ästhetisch idealisieren, indem rauchende Rohre oder glänzende Maschinenteile auf graphisch bildwirksame Zeichen reduziert und so eine Faszination der Technik symbolisiert wird. Auf der anderen Seite aber ließe sie sich unter dem Aspekt infernalischer Hässlichkeit in einer industriell zerstörten Umwelt darstellen und wäre somit Ausdruck einer engagierten Praxis.

»Die Fotografie«, schrieb Brecht 1931, »ist in den Händen der Bourgeoisie zu einer furchtbaren Waffe gegen die Wahrheit geworden. Das riesige Bildmaterial, das täglich von den Druckerpressen ausgespien wird und das noch den Charakter von Wahrheit zu haben scheint, dient in Wirklichkeit nur der Verdunkelung der Tatbestände. Der Fotoapparat kann ebenso lügen, wie die Schreibmaschine:«187

Welcher Aussage der fotografische Akt auch immer untergeordnet sein mag, Schaffernicht erkennt in ihm eine Art Legitimierungsfunktion, die er keinesfalls mit fotografischer Objektivität gleichgesetzt wissen will. Diese Legitimierungsfunktion besagt, dass ein Foto eine visuelle Behauptung insofern ist, dass das Dargestellte zum Aufnahmezeitpunkt wirklich existent war oder ist. Die erforderliche Anwesenheit des Fotografen zum Aufnahmezeitpunkt legitimiert diese visuelle Behauptung aus dem Umstand, dass etwas gedanklich Vorgestelltes oder verbal Behauptetes nicht fotografierbar ist. Aus diesem Sachverhalt ergibt sich auch einer stets eigenen Wahrnehmung gegenüber dem fotografischen und gemalten Bild. Die Fotografie wird aufgrund der Wiedergabe optisch authentischer Fakten von vornherein als reproduzierbare Realität angesehen, als objektives und unbestechliches Geschehen. Infolge dieses Fotografieverständnisses sind, insbesondere in der Pressefotografie, Manipulationen riesigen Ausmaßes möglich. Beispielsweise lässt sich ein in der Presse dargestelltes Geschehen mit einem Foto beglaubigen, das zu einem anderen Zeitpunkt und an einem anderen Ort aufgenommen wurde. Da dem Bild gemeinhin mehr Glauben geschenkt wird als dem geschriebenen Wort, wird die Richtigkeit der dargestellten Sache kaum noch angezweifelt; selbst wenn es sich gar um ein Archivbild handelt oder um eines, dass aufgrund technischer Mängel, des groben Rasters u.a.m. nur vage Umrisse erkennbar werden lässt. Eine Manipulationsmöglichkeit lässt sich vornehmen, indem visuelle Beglaubigungen von geschehenen Ereignissen unterlassen werden – beispielsweise eine Demonstration, eine gesellschaftpolitische Versammlung – um den Anschein zu erwecken, dieses Ereignis habe nicht stattgefunden. In diesem Sinne handelt es ich, mit Schaffernicht, um eine negative Legitimationsfunktion.188 Gleichwohl erklärt sich die Praxis nicht einzig über negative Legitimationsphänomene.

»Die Qualität, Glaubwürdigkeit zu erzielen, realisiert sich für die Fotografie genauso erst über diese Funktion, in ihr liegt die Chance der Überzeugungskraft von Fotos begründet, also auch – und vor allem – der kritischen, der engagierten.«189

Die Schwierigkeit, über die Fotografie begriffliche Klarheit zu gewinnen, sieht Schaffernicht in der Tatsache begründet, dass die Objekte der fotografischen Wahrnehmung einer scheinbaren Willkürlichkeit unterliegen und die Ergebnisse trotz dieser Willkür aus Elementen der Wirklichkeit und in festgesetzten Bruchteilen der Zeit entstehen. Von der Wahrnehmung des Fotografen wiederum hängt es ab, ob das Dargestellte typisch, einsehbar, entstellend oder anders zum Ausdruck gebracht wird. Da zuweilen entweder der eine oder der andere Aspekt des Dargestellten überbetont und der Kontext der fotografischen Praxis außer acht gelassen wird,

»eskalieren meistens Interpretationen der Fotografie zu Spekulationen über sie.«190