Schönheitsideale

Die Schönheitsideale in der Fotografie

Seit Disderi seine Erfindung der ›carte de visite‹ 1854 hat patentieren lassen und sich mit der Übernahme gängiger Schönheitsideale und Geschmacksvorstellungen in die Gunst breiter Schichten einschmeichelte,219 konnte Fotografieren zu einer verwertbaren und einträglichen Industrie werden. Zudem war die Möglichkeit, sich ablichten zu lassen, nicht mehr nur das Privileg des zahlungsfähigen Großbürgertums und der Aristokratie, sondern konnte nun auch, mit verhältnismäßig geringem Kostenaufwand, von breiten Schichten des Kleinbürgertums wahrgenommen werden.
Die von Disderi seinerzeit gepredigten Schönheitsideale, die »Evangelien der Schönheit«220  finden indessen auch heute noch ihre Fortsetzung. Wenn es um die Übernahme konventioneller Bildeffekte ging, blieb notwendig die fotografische Wahrheit auf der Strecke.

»Auf den magischen Befehl des Fotografen ›Bitte recht freundlich‹ werden die meist schon verkrampften Gesichtsausdrücke noch mit einem starren Lächeln verziert. Damit geht bei den meisten Bildern der letzte individuelle Ausdruck verloren und sie werden zu menschlichen Figuren, bei denen die Pose den abgezogenen Gehalt ersetzen muss.«221

So wie einst die Atelierfotografie bemüht war, soziale Position, Reputation und Würde, ebenso die gängigen Schönheitsideale der kleinbürgerlichen Schichten zu dokumentieren, so ist es auch heute der Amateurphotographie zum Teil darum zu tun, die eigene soziale Bedeutung zu demonstrieren und häufig auch mit Statussymbolen zu ornamentieren. Zwar haben sich im Gegensatz zur frühen Atelierfotografie die bildgestalterischen Akzente verschoben, die Requisiten sind gleichsam »moderner« geworden, aber im wesentlichen sind in der Alltagsfotografie die ehemaligen Schönheitsideale, die Merkmale der Frühzeit, wie Pose, Staffage u.a.m. erhalten geblieben, um die Wirklichkeit in bedeutungsvoll überhöhter Weise vorzustellen.

»Wenn große Wirklichkeitsgehalte aus der Sichtbarkeit unserer Welt abgezogen sind, so muss die Kunst mit den übriggebliebenen Beständen wirtschaften, denn eine ästhetische Darstellung ist um so realer, je weniger sie der Realität außerhalb der ästhetischen Sphäre enträt.«222

Fotografie – hier insbesondere die Alltagsfotografie – wird in dem Maße für die realistische und objektive Aufzeichnung der gesellschaftlichen Realität gehalten, in dem sie diejenigen Elemente aufweist, die als »realistisch« und »objektiv« gelesen werden.223

»Nur weil der gesellschaftliche Gebrauch der Fotografie aus der Fülle ihrer möglichen Gebrauchsweisen nach den Kategorien, die die übliche Wahrnehmung der Welt organisieren, gezielt auswählt, kann das fotografische Bildnis für die genaue und objektive Wirklichkeit gehalten werden.«224

Je weiter aber die ästhetische Praxis von der Qualität sich entfernt, umso mehr wird diese metaphysisch verklärt225 und in den Bereich »ästhetischer Distinktion« gerückt.226
Anders ausgedrückt: Je weniger die gesellschaftliche Wirklichkeit Gestaltungsmöglichkeiten zur Disposition stellt,227 umso mehr wächst der Wunsch nach Verschönerung, wird die ästhetische Praxis zum Erlebnis einer »Kamerabeute«.

»In der Tat ist der heimkehrende Amateur mit einer Unzahl künstlerischer Originalaufnahmen nicht erfreulicher als ein Jäger, der vom Anstand mit Massen von Wild zurückkommt, die nur für den Händler verwertbar sind. Und wirklich scheint der Tag vor der Tür zu stehen, da es mehr illustrierte Blätter als Wild- und Geflügelhandlungen geben wird. Soviel vom ›Knipsen‹.«228

Ein ähnlicher Vergleich findet sich auch bei Susan Sontag, die den Fotografen vorhält, sich, darin einem Jäger gleich, an das »großstädtische Inferno« heranzupirschen, um es gleich darauf effektvoll zu besetzen.229

»Die Vorstellung, Realität sei eine exotische Trophäe, die vom eifrigen ›Jäger mit der Kamera‹ aufgespürt und eingefangen werden kann, hat die Fotografie von Anfang an beeinflusst.«230

Nicht weniger verbreitet ist die photographische Disposition, selbst solchen Objekten und Situationen einen ästhetischen Reiz abzugewinnen, die Verfall und Elend dokumentieren. Zwar lässt diese Disposition nicht schlechthin sich verallgemeinern, findet aber sowohl in der kommerziell verwerteten Praxis wie auch in der Alltagsfotografie ihren Zuspruch. In diesem Zusammenhang ließe sich auf die durchweg in Hochglanz hergestellten Fotozeitschriften verweisen, die das Thema des Verfalls zu einer Rubrik »Fotodidaktik« aufbereitet haben.

»Soziales Elend hat die im Wohlstand Lebenden stets unwiderstehlich zu Fotografieren angeregt – der schmerzlosesten Art, etwas zu erbeuten, um damit eine verborgene, das heißt, eine ihnen verborgen gebliebene Realität zu dokumentieren.«231

Indem man die gesellschaftliche Realität zumindest in ihren Brüchen gleichsam in modisch-perfektionierter Weise fotografisch erfasst, wird sie zum Gegenstand des Genusses gemacht.232

»Zeichen des Verfalls, des Alterns, ja Szenen der Verwahrlosung und des Elends aus einer nichtbetroffenen Sicht wahrnehmen und goutieren zu können, das haben ca. drei Jahrhunderte abendländischer Malerei gelehrt; danach hat die Fotografie diese Aufgabe übernommen.«233

Zu Recht wirft deshalb auch Kracauer dem künstlerischen Fotografen vor, ein dilettantischer Künstler zu sein, da er eine modische Richtung unter Weglassung ihres sozialen Gehaltes nachahmt, »statt das Gehaltlose zu treffen.«234
Insbesondere der »Profifotograf« arbeite, so Kracauer, mit einer rigiden Realtätskonzeption: zwar neugierig, aber innerlich unbeteiligt werde die gesellschaftliche Wirklichkeit durch den Sucher betrachtet, ganz so, als ob diese Perspektive allgemeingültige Schönheitsideale vertrete.

»Die Fotografierkünstler wirken im Sinne jener sozialen Mächte, die an dem Schein des Geistigen interessiert sind, weil sie den wirklichen Geist fürchten, er könnte den Untergrund sprengen, dem der Schein als Verklärung dient.«235

Freilich unterscheidet sich die von vielen Alltagsfotografen betriebene alternative Praxis, so etwa Klünker, kaum von herkömmlichen, modischen Profifotografen.
Auf der einen Seite betreibe die alternative Praxis einen gewaltigen Apparateaufwand – die teuren Stative, vielen Wechselobjektive und nobilitierten Kameras unterscheiden sich kaum von der Profiausrüstung – während aber andererseits mit den Mitteln der Schwarzweiß-Fotografie als stilisierter Gestus des Verzichts, gleichermaßen eine ähnliche ästhetisierende Wirklichkeitswahrnehmung vollzogen werde. Eine solchermaßen betriebene Praxis entgeht nicht deshalb dem Glanz und Glamour der Konsumgesellschaft, weil sie die Bilder mit dem Nimbus des Bescheidenen versehen würde. Wer skeptisch bleiben wolle, so Klünker, solle die nächstbeste Galerie aufsuchen oder einen beliebigen Ausstellungskatalog aufschlagen. Was dem Betrachter entgegentrete, sei eine Welt des Schwarzweißen, betont schlicht.236

»Je mehr die Krise der heutigen Gesellschaftsordnung um sich greift, je starrer ihre einzelnen Momente einander in toter Gegensätzlichkeit entgegentreten, desto mehr ist das Schöpferische – dem tiefsten Wesen nach Variante; der Widerspruch sein Vater und die Nachahmung seine Mutter – zum Fetisch geworden, dessen Züge ihr Leben nur dem Wechsel modischer Beleuchtung danken. Das Schöpferische am Fotografieren ist dessen Überantwortung an die Mode. ›Die Welt ist schön‹ – genau das ist ihre Devise. In ihr entlarvt sich die Haltung einer Fotografie, die jede Konservenbüchse ins All montieren, aber nicht einen der menschlichen Zusammenhänge fassen kann, in denen sie auftritt, und damit noch in ihren traumverlorensten Sujets mehr ein Vorläufer von deren Verkäuflichkeit als von deren Erkenntnis ist. Weil aber das wahre Gesicht dieses fotografischen Schöpfertums die Reklame oder Assoziation ist, darum ist ihr rechtmäßiger Gegenpart die Entlarvung oder die Konstruktion.«237