Wirklichkeitsersatz

Fotografie als Wirklichkeitsersatz

Die aufdeckende Kraft der Kamera, die neusachliche Fotografie, erreicht um 1930 ihren Höhepunkt und hat seitdem sich immer weiter vom sachlichen Interesse entfernt. Nicht wenige Fotografen lassen sich hauptsächlich von affirmativ optischen Reizen gleichsam als Wirklichkeitsersatz leiten und sind somit nicht mehr imstande, Erkenntnis über den Wirklichkeitsgehalt des Dargestellten freizumachen.238

»So bleibt die Wirklichkeit vorerst voller Geheimnisse, offen für jedermann und doch verschlossen, ihr Geheimnis nur dem ‚Kreativen‘ vermittelnd. Der umstrittene Begriff des ›Kreativen‹, der so leicht den Werbefotografen und so zögernd der Fotoreportage zugesprochen wird, zeigt, wo die Grenze zwischen kritischer Bestandsaufnahme der Wirklichkeit und einem hochbezahlten Schöpfertum der Werbung verläuft, weist auf die Gegensätze von realisierten Träumen und ihrer nachfolgenden Desillusionierung hin, konfrontiert unser Bewusstsein mit der inszenierten Wirklichkeit und konkreter Erfahrung und zeigt, dass ästhetische Strukturen keine sozialen Einsichten vermitteln können.«239

Hier schließt sich die Frage an, ob denn die Fotografie überhaupt noch als Medium genutzt wird, Realität zu bewältigen und aufzudecken, wie etwa die neusachliche Fotografie um die Jahrhundertwende, oder ob sie als Mittel zu deren Verschleierung eingesetzt wird. Zweifellos baut die Werbe-, Mode- und Pressefotografie ihre Bildinformationen auf traditioneller Sehstrukturen auf und macht immer wieder den Versuch, die ästhetischen Momente im Foto als Wirklichkeitsersatz, als Deutung der Wirklichkeit herauszustellen. Eine engagierte Praxis, die sich der aufdeckenden Funktion der Kamera bedient, ist zunehmend im Rückzug begriffen. Obwohl gerade gesellschaftliche Bruchstellen zu den zentralen Themen der Fotografie gehören, nimmt – das ist insbesondere bei großen Illustrierten zu beobachten – die gesellschaftskritische Reportagefotografie ständig ab, Fotoreporter wechseln zur Werbung über und soziale Themen wie Städtebau, Sanierung, Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit, Freizeit und Konsumverhalten werden zur knapp oder inhaltlich verzerrt und formal unzureichend wiedergegeben. Vernachlässigt werden aber auch die Ursachen der Stadt- und Landzerstörung; statt dessen interessieren sich die Bildreporter z.B. für die Erschließung immer neuer Feriengebiete. Aus den Profi-Fotografen werden hochdotierte Lieferanten einer Schein-Wirklichkeit gemacht. Sie reduzieren die Bildinhalte auf bekannte Motive und graphisch bildwirksame Zeichen, wodurch die Aufnahmefähigkeit der Konsumenten gesteigert, ihre Kluft zur äußeren Realität vergrößert und ihre unmittelbare Erlebnisfähigkeit geschwächt wird.240

Asam spricht von einer fotografischen Wahrnehmung, die mehr umfasst als nur den Blick durch den Sucher, nämlich den Zwang, alles zum Objekt zu deklassieren.241

»Im Kampf um Auflagensteigerung und hohe Einschaltquoten wird das illustre Foto wichtiger gegenüber diskursiver Sprache und Begrifflichkeit, dient es doch durch schnelle Identifikation und Simplifizierung der Annäherung an den sogenannten gesunden Menschenverstand.«242

Selbst der Einsatz von Weitwinkel- und Teleobjektiven, die unmittelbare Realität vermitteln wollen, täuscht über den Wirklichkeitsersatz der durch die Werbung und Massenpresse aufbereiteten Bildprodukte nicht hinweg. In der Verknüpfung

»allgemeiner Belange mit komplexen Sachverhalten an Bilderfahrungen niederer, weil dem Alltagsleben entnommener, Ordnung«,243

sieht Asam das wirkliche Verständnis des dargestellten Gegenstandes eingeschränkt und zur Ideologie verfälscht.
Ullmann gelangt zu einer vergleichbaren Auffassung: Er sieht in der Gewaltätigkeit der Bildsprache nur den äußeren Niederschlag der gegenwärtigen Gewalt überhaupt, da die Ursachen der Gewalt von der Fotografie nur unzureichend oder gar nicht wiedergegeben werden.244

Da die gegenwärtige Marktlage nur wenig Raum für gesellschaftskritische Bildberichterstattung lässt, wird der Wechsel von einer engagierten Praxis zur Werbe- oder Modefotografie durchaus verständlich. Erwuchsen aus dem dokumentarischen Bedürfnis der zwanziger Jahre noch eindrucksvolle Leistungen von Fotografen wie Alfred Eisenstaedt, Dorothea Lange, Erich Salomon oder Cartier Bresson,245 so wird es dem heutigen Fotografen immer schwerer, seinen gesellschaftlichen Standpunkt zu bestimmen. Er muss, will er seine Existenzgrundlage nicht gefährden, sich den Erfordernissen der Marktstrategie großer Illustrierter anpassen. Mit Hilfe der vollendeten Technik wird die Grenze zwischen Schein und Wirklichkeit verwischt, die Praxis wird Werbezwecken dienstbar gemacht und universellen ästhetischen Leitbildern untergeordnet. Bei der Herstellung solcher Leitbilder – vertreten insbesondere durch die Werbefotografie – existiert ein nie genau umschriebener »künstlerischer Anspruch«, der im Ausdruck des Immergleichen (Adorno), in der ständig wiederholten Anwendung der gleichen formalen Gestaltungsmittel, diese Praxis legitimieren soll.

Neumann betont, dass die übertriebene Konzentration auf winzige Ausschnitte, dem Gegenstand nur noch formale, von jedem Inhalt gelöste Bedeutung verleiht, die Wirklichkeit also aus ihm verschwindet.246

»Die inszenierte Fotografie, betrieben von der Crème der Fotografen, hat nun ihr potentielles Schöpfertum auf Bilderzeugung abgestellt, um mit der alten Zauberformel der ›Kreativität‹ noch einmal die Macht des Mediums zu beweisen. Betrachtet man jedoch die Produkte dieser kunstgewerblichen Bilderwelt, so bleiben ihre Beiträge auf den ästhetischen Bereich beschränkt, ja, sie stellen oft in sehr direkter Weise die Beziehung von Auftraggeber und Marktlage dar. So erscheint auch hier der Rückzug zur Kunstfotografie als Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben.«247

Angesichts einer immer raffinierteren Ästhetik, die die Farbfotografie noch glanzvoller macht, und angesichts der nachlassenden Wirkung von Vietnamfotos stellt sich die Frage, wie Fotografien vom Wirklichkeitsersatz in einen Einsicht vermittelnden Gebrauch zurückgeführt werden können.